Cheryl Strayed musste viele Schicksalsschläge erleiden. Der Verlust ihrer geliebten Mutter Bobbi und das Ende ihrer Ehe, die an Cheryls Heroinsucht zerbrach, haben sie in ein tiefes Loch fallen lassen. Frustriert, aber auch entschlossen kehrt sie ihrem alten Leben den Rücken zu und begibt sich – ohne geringste Vorkenntnisse und mit viel zu schwerem Rucksack – auf eine Wanderung entlang des Pacific Crest Trails an der Westküste der USA, einem durch die Wildnis Kaliforniens, Oregons und Washingtons führenden Wanderweg.
Eine bemerkenswerte Geschichte. Ein erstaunlicher Film. Ein Road Movie in den Bergen. Road Movies haben das Ziel, aus ihren Protagonisten bessere Menschen zu machen, wenigstens besser im Leben stehende Menschen. Aus dem Off erfahren wir, ob Cheryl das gelingt.
Darauf aber reduziert wäre der Film zu plump – interessant montiert, aber doch vorhersehbar; die einzige Frage bliebe, ob die schöne Reese Witherspoon es schaffen wird, unvergewaltigt durch die Wildnis zu gelangen, denn böse Wannabees oder Mightbees laufen ihr genug über den Weg und die Regie nutzt sie weidlich für entsprechende Moments. Aber das ist nicht der Punkt.
Ein Mensch bricht alle Brücken ab und begibt sich auf eine Suche – nach irgendwas. „In meinem alten Leben war ich einsamer als hier draußen“, sagt Cheryl nach etwa 300 Meilen und 45 Tagen da draußen. Jean-Marc Vallées Film begleitet sie, scheinbar ohne groß einzugreifen; er verlässt sich auf seine Hauptdarstellerin Reese Witherspoon (Das gibt Ärger – 2012; Walk the Line – 2005; Natürlich blond 2 – 2003; "Sweet Home Alabama" – 2002; Natürlich blond! – 2001; Little Nicky – 2000; American Psycho – 2000; Election – 1999; Eiskalte Engel – 1999; Pleasantville – 1998; Im Zwielicht – 1998), die hier in erstaunlicher Rolle auftaucht. Hollywoods All-American-Darling als Heroin-Schickse, die sich zwischen Mülltonnen im Hinterhof vögeln lässt. Witherspoon war es sehr ernst mit dieser Rolle, das merkt man ihr an und das führt auf der Meta-Ebene beim Kinobesuch zu Irritationen: Der Film verliert manchmal seine Geschichte aus dem Fokus und zeigt eine Schauspielerin, die an ihrem Imagewandel arbeitet. Witherspoon hat die Rechte am Buch gekauft, sie hat produziert, sie wollte diese Rolle, sie wollte aus ihrem Klischee ausbrechen. Nun … zumindest als Disney-Prinzessin wäre sie wohl nicht mehr erste Wahl (für alles andere hingegen umso mehr).
Ich brauche Zeit, um in die Geschichte reinzufinden. In der Montage des Films folgt Regisseur Vallée dem Rythmus seiner Protagonistin – zunächst verfahren, mit zunehmenden Kilometern selbstsicherer, griffiger, ergreifender – voll kleiner Erfolgserlebnisse, die unser Nine-to-Five-Leben nicht bietet. Plötzlich verfolge ich einen Menschen, der ich sein könnte, auf der Suche nach dem Sinn im Leben; eine Suche, die wir im Alltag versemmeln, weil wir so viel anderes mit diesem Alltag zu schaffen haben. Witherspoons Cheryl bekommt die Gelegenheit, zu gucken, warum verdammt nochmal sie in dieser Welt herumläuft und dem folgen wir gebannt, auch weil die kleinen Rückschläge verkraftbar scheinen und die Landschaft dafür einfach grandios – wenn Aussteigen doch so schön und einfach wäre, wie im Kinosessel. Denn auch, wenn der Film gleich zu Beginn sehr schmerzhaft ist, bleibt die weitere Wildnis-Erfahrung überschaubar – Cheryl kann jederzeit telefonieren, an Poststationen warten Päckchen auf sie; die wilde Welt ist erfasst.
"Wild" ist ein Plädoyer für den Ausstieg, das Innehalten. In vielerlei Hinsicht ist er die Schwester des anderen biografischen Aussteigerfilms Into the Wild (2007). Sehenswert.