Buchcover: Daniel James Brown – Das Wunder von Berlin

Ein Doku-Roman
über das Rudern

Titel Das Wunder von Berlin
(The Boys in the Boat)
Autor Daniel James Brown, USA 2013
aus dem Amerikanischen von Wolfram Ströle
Verlag Riemann Verlag
Ausgabe Gebunden, 486 Seiten
Genre Sachbuch
Website randomhouse.de/Das-Wunder-von-Berlin
Inhalt

Die Weltwirtschaft lastet in den dreißiger Jahren schwer auf den USA, Joe Rantz wird von seiner Familie alein auf einer Farm in der Nähe von Seattle zurückgelassen. Der einzige Weg, um der Armut zu entkommen, ist das Ruderteam der Universität von Washington.

Das harte Training und die Konkurrenzkämpfe fordern ihm alles ab, doch vor allem muss er lernen, anderen uns sich selbst zu vertrauen. Unterstützt von einem visionären Bootsbauer und einem entschlossenenen Trainer findet Joe schließlich sein Team: Neun junge Männer, Söhne von Waldarbeitern, Milchbauern und Fischern, bieten gemeinsam nicht nur den Eliteteams des Landes die Stirn, sondern setzen sich ein Ziel, das unerreichbar scheint: 1936 die Goldmedaille in Berlin zu gewinnen.

In Hitlers Deutschland müssen sie gegen ihren gößten Konkurrenten antreten, die NS-Rudermannschaft gilt als eindeutiger Favorit. Doch gegen jede Wahrscheinlichkeit lassen die neun jungen Männer aus Seattle unter den Augen der ganzen Welt in Berlin ihren Traum wahr werden und setzen in einer der dunkelsten Zeiten der Geschichte ein Zeichen der Hoffnung …

Was zu sagen wäre
Das Wunder von Berlin

Auch diese Geschichte über einen Erfolg der US-Sportler über die grobmotorischen Nazis, die schon deshalb so erstaunlich ist, weil wir bei Berlin 1936 plus Olympia immer an Jesse Owens denken – der Schwarze gegen die Herrenrasse – aber nicht an irgendwelche Ruderer, kommt nicht ohne Pathos aus. Kurz, bevor die Jungs ablegen nach Berlin erklimmen sie in New York das Empire State Building und Daniel James Brown beschreibt in wenigen Worten anschaulich, wie die Baumfäller- und Farmers-Söhne sich zum ersten Mal mehr als zwei Meter über dem Boden befinden. Dann dichtet er ihnen Gefühle an, die sie sicher in der Rückschau irgendwann einmal so formuliert haben mögen, aber nicht damals in Manhattan, kurz vor Olympia – für diesen definierten Nationalstolz spricht einfach nichts zuvor in diesem Buch: „Sie waren jetzt Repräsentanten von etwas viel Größerem als nur der eigenen Person – einer Lebensart, eines gemeinsamen Wertekanons. Die Freiheit war der vielleicht wichtigste dieser Werte. Aber auch die Dinge, die sie untereinander verbanden – Vertrauen ineinander und Respekt voreinander, Demut, Anstand und gegenseitige Fürsorge –, waren Teil von dem, was Amerika für sie bedeutete. Und diese Dinge würden sie zusammen mit ihrer Begeisterung für die Freiheit nach Berlin mitnehmen und der Welt vorführen, wenn sie in Grünau antraten.“ Nichts zuvor spricht dafür, dass sich der junge Joe Rantz etwa groß hätte Gedanken machen können, was ihm Amerika bedeutet; er war viel zu sehr damit beschäftigt, über die Runden zu kommen, hart zu arbeiten, immer wieder aufzustehen nach Niederschlägen. Das verdankt er keinem abstrakten Amerika, sondern nur sich selbst.

Das sind kleine Stolperer, die dem Fluss und der ansonsten angenehm unpathetischen Erzählung nicht im Weg stehen. Mit viel Liebe fürs Detail hat Brown Fakten und Anekdoten zusammengetragen und bietet weit mehr, als bloß ein Buch übers Rudern. Er beschreibt eine Epoche – eine Epoche, die in einem Winkel der USA beginnt, der heute als Sitz von Microsoft und als Geburtsort des Grunge bekannt ist; aber damals war Washington mit seiner Hauptstadt Seattle ein von Gott und der Welt ignorierter Flecken grünen Lands. Und die Geschichte begonnt, als sich die wirtschaftliche Depression über das Land legt und Brown braucht jeweils nur zwei, drei Absätze, um die stimmung zu setzen, Situationen einzuhegen, Charaktere zum Leben zu erwecken.

Beim Rennrudern gibt es keine Pause. Man kann nirgends anhalten, einen Schluck Wasser trinken und sich mit einem tiefen Atemzug frischer Luft stärken. Der Blick klebt unverwandt am schweißnassen, roten Nacken des Vordermannes, und man rudert und rudert, bis einem jemand sagt, dass es vorbei ist … Leute, das ist wirklich kein Sport für Waschlappen.“ Dieses Zitat Royal Broughams im Seattle Post-Intelligencer beschreibt eine der zentralen Punkte des Rudersports.

Daniel James Brown beschreibt in der Folge sehr anschaulich, was Rudern so gesund macht: „Beim Rudern verrichten die großen Muskeln an Armen, Beinen und Rücken – insbesondere Quadrizeps, Trizeps, Bizeps, Deltamuskel, großer Rückenmuskel und verschiedene Muskeln an Bauch, Oberschenkel und Gesäß – die Hauptarbeit. Sie treiben das Boot gegen den erbarmungslosen Widerstand von Wind und Wasser an. Zugleich leisten Dutzende kleinerer Muskeln an Nacken, Handgelenken, Händen und auch Füßen unausgesetzt die Feinarbeit. Sie halten den Körper beständig im Gleichgewicht, damit das nur sechzig Zentimeter breite Boot nicht umkippt. Infolge der Anstrengung dieser vielen großen und kleinen Muskeln verbraucht der Körper mehr Kalorien und Sauerstoff als bei fast allen anderen menschlichen Betätigungen. Physiologen haben berechnet, dass man für ein 2.000-Meter-Rennen genauso viel Energie verbraucht wie für zwei Basketbalspiele unmittelbar hintereinander, und das in nur sechs Minuten. Ein durchtrainierter Ruderer, der an internationalen Wettkämpfen teilnimmt, muss pro Minute acht Liter Sauerstoff aufnehmen und verbrauchen können.“ (Seite 56)

Dieser Ausflug in die Theorie und Statistik des Rudersports ist einer der ganz wenigen dieser Art. Brown schreibt zwar ein Sachbuch, aber keine biochemische Doktorarbeit. Um seine Hauptfigur Joe Rantz herum beschreibt er in kleinen Ausflügen in dessen familiäre Umgebung ganz unterschiedliche Figuren des historischen Rudersports, skizziert greifbar das Leben während der großen Depression infolge des Börsencrashs von 1929 und zieht den Leser tief hinein in die Psyche eines werdenden Ruderveterans. Das Buch ist geworden, was der bereits im Sterben liegende Joe Rantz sich von seinem Autor gewünscht hat: ein Buch „über das Boot“, über neun außergewöhnliche Männer, ein granatenhaft gutes Boot und den Swing, den die Neun darin gefunden haben, den Geist absoluter Präzision in Bewegung und Rhythmus. Natürlich zehrt das Buch – vor allem in der ersten Hälfte, in der es viel Depressives zu berichten gibt – von seiner Ausgangsposition: Wir Leser wissen, dass die Jünglein, die uns beschrieben werden, die aus ärmlichen, umkämpften, noblen oder verstoßenen Verhältnissen stammen, am Ende Olympia 1936 gewinnen.

Auf diese Weise schafft das Buch von der ersten Seite an, uns Leser in jene Situation zu bringen, die die Jungs im Boot („The Boys in the Boat“) erst noch lernen müssen: Wir fliegen durch dieses Buch, schweben gleichmäßig durch die Ungewissheiten des Lebens der Protagonisten und können uns umso mehr an ihrem jeweiligen Biss erfreuen, denn er führt garantiert zum Ziel. Denn auch die Jungs im Boot lernen das Fliegen (mitten hindurch durch die Ungewissheiten des Wassers) und das ist (für einen Ruderer) die schönste Stelle im Buch: Der Bootsbauer, George Yeoman Pocock, ein alter, erfahrener Fahrensmann, macht der Hauptfigur des Buches, Joe Rantz, einem Jungen, der gelernt hat, sich nur auf sich selbst zu verlassen, nur für sich selbst zu kämpfen, klar, dass Erfolg im Ruderboot nur zu haben ist, wenn man sich auf die anderen verlässt, sich auf sie einlässt, mit ihnen zu einer Einheit verschmilzt. Fortan fliegt das Boot der künftigen – noch ahnungslosen – Olympiasieger. In diesem simpel klingenden Hinweis steckt tatsächlich – neben guter Technik und ordentlich Kraft – das Geheimnis des Mannschaftsruderns. In der Binnensicht – die manch augenscheinliche Binse bereit hält – liegt eine weitere Stärke des Buchs. Es feiert die Schönheit, die Dramatik, die Eleganz des Ruderns.

Der Rudersport ist für Zuschauer vor Ort langweilig: Entweder stehst Du am Start, dann siehst Du das Finish nicht. Oder Du stehst irgendwo an der Strecke, dann siehst Du ein paar Boote vorbeizischen. Oder Du stehst am Ziel, dann fehlt Dir die ganze Dramatik, die so ein Rennen haben kann. Mit diesem Buch sind wir dauernd mit im Boot auf der Bahn im Rennen. Da gehen uns Taktik, Technik und Dramatik eines 2.000-Meter-Rennens sehr nah. „Don Hume auf der Backbord- und Joe Rantz auf der Steuerbordseite gaben das Tempo mit langen, fließenden Bewegungen vor, und die Jungs hinter ihnen fielen perfekt in ihren Rhythmus ein. Vom Seeufer sahen Ruderer, Riemen und Boot aus wie ein einziges Wesen, das sich voller Anmut und Kraft zusammenzog und streckte und über die Wasseroberfläche glitt. Acht Rücken schwangen in vollendeter Harmonie vor und zurück, acht weiße Ruderblätter tauchten genau im selben Moment in das spiegelglatte Wasser ein und wieder auf. Nahezu lautlos verschwanden sie im Wasser und verursachten kaum Wellen. Und wenn sie wieder auftauchten, glitt das Boot wie von Geisterhand getrieben trotzdem weiter, ohne langsamer zu werden.“ (Seite 370)

Es gibt eine schöne Stelle im Buch (Seite 124), die man vor jedem Ruderwettbewerb, der im Fernsehen übertragen wird, dem unerfahrenen Zuschauer zitieren könnte, hier am Beispiel eines Riemen-Achters (jeder Ruderer zieht mit zwei Händen ein Blatt, nicht zwei) mit Steuermann; wobei noch zu sagen ist, dass die Platznummerierung vom Bug aus erfolgt, also im Bug die Nummer eins sitzt und auf Schlag, weit im Heck, die Nummer acht: „Doch es gibt feine Unterschiede in den Anforderungen, je nachdem, auf welchem Platz der Ruderer sitzt. Weil das Boot sich notgedrungen in die Richtung bewegt, in die der Bug fährt, kann der Ruderer auf dem Bugsitz mit jeder Abweichung und Unregelmäßigkeit seines Schlags Kurs, Geschwindigkeit und Stabilität des Bootes am meisten stören. Er muss deshalb nicht nur so stark wie die anderen sein, sondern auch technisch erfahren und imstande, den Riemen immer wieder perfekt durchs Wasser zu ziehen. Dasselbe gilt in geringerem Maße für die Ruderer auf den Plätzen zwei und drei. Die Plätze vier, fünf und sechs werden oft als Maschinenraum bezeichnet. Die Ruderer auf diesen Plätzen sind meist die größten und stärksten des Bootes. Auch sie müssen eine gute Technik haben, aber letztlich hängt die Geschwindigkeit des Bootes von ihrer Körperkraft ab und der Effizienz, mit der sie diese auf die Riemen und das Wasser übertragen. Der Ruderer auf dem siebten Platz ist eine Mischform. Er muss fast so stark wie die Ruderer im Maschinenraum sein, aber auch besonders wachsam gegenüber allem, was auf dem Boot geschieht. Er muss den vom Ruderer auf Platz acht, dem Schlagmann vorgegebenen Rhythmus und die von ihm eingesetzte Kraft genau aufnehmen und diese Information zuverlässig an den Maschinenraum übermitteln. Der Schlagmann sitzt mit dem Gesicht zum Steuermann, der zum Bug blickt und das Boot lenkt. Theoretisch rudert der Schlagmann immer dem vom Steuermann vorgegebenen Rhythmus, aber letztlich bestimmt er ihn. Denn die anderen richten sich nach ihm. Eine eingespielte Mannschaft funktioniert wie eine gut geölte Maschine.

Das ist Rudern!

Ich habe „The Boys in the Boat“ zwischen dem 19. Februar und dem 1. April 2016 gelesen.