Buchcover: Der Hals der Giraffe
Sarkastisch, realistisch, zynisch
und wundervoll erzählt
Titel Der Hals der Giraffe
Autor Judith Schalansky, Deutschland 2011
Verlag Suhrkamp Verlag
Ausgabe Gebunden, 222 Seiten
Genre Bildungsroman
Inhalt

Inge Lohmark ist Lehrerin. Seit … ganz ganz vielen Jahren. Für Biologie und Sport. Im Vorpommerschen Land, Brandenburg. Längst ist die Mauer nicht mehr da. Jedenfalls nicht die aus Stacheldraht und Schießanlage. Aber im Alltag an der Schule, da ist sie noch. In dem fröhlich-jovialen Direktor, der aus dem Westen kam und das Kollegium behandelt, als seien alle Behinderte. Behinderte Kleinkinder, denen man die Welt erst einmal erklären muss. Die Kollegen allerdings sind auch keine Zierde, die immer noch ihren Ost-Ritualen hinterher weinen.

Nein, der Beruf macht ihr keine Freude mehr, täglich diesen gelangweilten Schülern ins Gesicht zu blicken, die Biologie öde und Sport als Fußball missverstehen, irgendwann abgehen, sich entwickeln und was werden – die meisten wohl arbeitslos – während sie, Lohmark, in den nächsten Jahrgang gelangweilter Gesichter blickt, denen sie wieder versucht, das Wesen der Evolution, den Sinn gesunder Bewegung nahezubringen.

Dass ihre Schule in vier Jahren geschlossen werden soll, ist nicht zu ändern – in der schrumpfenden Kreisstadt im vorpommerschen Hinterland fehlt es an Kindern. Lohmarks Mann, Wolfgang, der zu DDR-Zeiten Kühe besamt hat, züchtet jetzt Strauße. In Brandenburg. Vögel, die gar nicht fliegen können. Ihre Tochter, Claudia, ist vor Jahren in die USA gegangen und hat nicht vor, Kinder in die Welt zu setzen. Irgendwie verweigern sich heute alle dem Lauf der Natur, den Inge Lohmark tagtäglich im Unterricht beschwört.

Nur sie nicht. Sie lässt keine Schwäche zu. Der Aufbau einer Klasse sieht vor, dass der Lehrer unterrichtet und die Schüler lernen. Schwäche wird bestraft. Vor allem die des Lehrkörpers wird bestraft. Durch die Horde, die ihm gegenübersitzt. Einmal … einmal nur verlässt Lohmark ihre strengen Richtlinien. Lässt sowas wie Gefühl zu. Für eine Schülerin.

Und bringt damit ihr ganzes Lebensgebäude ins Wanken …

Was zu sagen wäre
Der Hals der Giraffe

Das Buch geht so los:
„Setzen”, sagte Inge Lohmark, und die Klasse setzte sich. Sie sagte „Schlagen Sie das Buch auf Seite sieben auf”, und sie schlugen das Buch auf Seite sieben auf, und dann begannen sie mit den Ökosystemen, den Naturhaushalten, den Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen unter den Arten, zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt, dem Wirkungsgefüge von Gemeinschaft und Raum.

Die Ödnis eines mit Mitte 50 zu Ende gelebten Lebens wird in wenigen Federstrichen deutlich. Komplexer werden die Sätze nicht. Subjekt, Prädikat, Objekt, manchmal hintendran noch eine Aufzählung. Kaum Dialoge. Konsequent die Welt erzählt durch Lohmarks Brille. Hat sie überhaupt eine auf? Weiß man nicht. Die Kinder werden genauer beschrieben, als die Protagonistin selbst. Das heißt: Streng genommen werden die Kinder seziert. Sarkastisch in ihrem vorprogrammierten Elend auseinander genommen.

Judith Schalansky beobachtet die Lehrerin an drei Tagen in deren Leben. Zu Schulbeginn, im November, im Frühling. Wenig verändert sich in dieser Zeit. Wenig hat sich überhaupt verändert, in den letzten Jahren. Es ist fantastisch, wie es der etwas über 30 Jahre alten Schalansky gelingt, in einem konsequent durchgezogenen Erzähl-Impressionismus das kleine Universum einer Frau zu entwickeln, die ihre Mutter sein könnte, wie sie mit wenigen Sätzen, die fast so nebenbei dahin perlen, Lohmarks großes Scheitern an der Tochter Claudia erzählt; und wie diese klitzekleine Erwähnung der Ursprung und die Quintessenz all ihres künftigen Scheiterns darstellt.

Andererseits muss ich bis dahin auch viel Deskriptives lesen. Vieles, das ich irgendwann dann auch längst verstanden habe. Vieles, das nebenbei erzählt, nur schwer in meinen Arbeitnehmer-Feierabend-Kopf geht und damit ein andauerndes Gefühl des "„Ich verstehe womöglich etwas nicht, weil ich was verpasst habe”. Das ist nicht Manko der Autorin, das wäre noch schöner, wenn künftig bloß noch Bücher verlegt würden, die man nach Feierabend leicht konsumieren kann. Aber die durchgehende Beschreib-Welle aus Subjekt, Prädikat, Objekt macht es schwer, bei Lohmark zu bleiben – zumal die alles andere als eine sympathische Figur ist. Sie hadert. Mit sich, der Welt, der Schule, dem Ehemann, den Straußen – ausgerechnet Strauße, diese von der Evolution verarschten Vögel, die nicht fliegen, dafür aber laufen können.
Dennoch glaube ich, dass die Autorin kürzer hätte sein können, ohne Plot, Thema oder gar Stil des als „Bildungsroman” angebotenen Buches zu beeinflussen.

Und ganz nebenbei behandelt das Buch große Themen der deutschen Zeitgeschichte: Mauerfall, West-Ost-Konflikt, Landflucht, Bildungsmisere, Überalterung, das Scheitern der Wissensgesellschaft. Die Erzählform ist keine, die ich mag, eben weil sie im Alltag so schwer zu verarbeiten ist. Aber das Buch hallt nach. Die Lehrerin, deren Vision man über 222 Seiten teilt, bleibt mit ihren Themen noch im Kopf. Das ist viel Wert.

Ein Freund hat mir das Buch geliehen. Ich habe es gelesen vom 6. bis 11. Juni 2012.