Buchcover: Michel Houellebecq: Unterwerfung (2015)

Der Albtraum des aufgeklärten Westens
als erotischer Traum mit Teenagern

Titel Unterwerfung
(Soumission)
Autor Michel Houellebecq, Frankreich 2015
aus dem Französischen von Norma Nassau und Bernd Wilczek
Verlag Dumont
Ausgabe Taschenbuch, 271 Seiten
Genre Drama, Komödie
Inhalt

Der Literaturwissenschaftler François forscht im Frankreich einer sehr nahen Zukunft zu dem dekadenten Schriftsteller Huysmans, der ihn sein Leben lang fasziniert.

Zugleich verfolgt er die Ereignisse um die anstehende Präsidentschaftswahl: Während es dem charismatischen Kandidaten der Bruderschaft der Muslime gelingt, immer mehr Stimmen auf sich zu vereinigen, kommt es in der Hauptstadt zu tumultartigen Ausschreitungen.

Als schließlich ein Bürgerkrieg unabwendbar scheint, verlässt François Paris ohne ein bestimmtes Ziel. Es ist der Beginn einer Reise in sein Inneres …

aus dem Klappentext

Was zu sagen wäre
Unterwerfung

Dafür ist Literatur erfunden worden“, zitiert großspurig der DuMont-Verlag ein angebliches Zitat der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu diesem Buch. Und ich weiß nicht, wie in Bescheidwisser-Kreisen "Literatur" definiert wird, aber: Ja! Wenn Literatur = Kunst ist und Kunst den Spiegel vorhalten, aufrütteln soll, dann ist dieser Roman Kunst. Schauspieler, die Unsympathen wie, sagen wir, Hitler spielen sollen, sagen, sie müssten erst lernen, sich mit der Figur, die sie spielen sollen, zu identifizieren, sie müssten lernen, sie vorbehaltlos zu akzeptieren – erst dann gelinge das Kunststück großen Schauspiels. Michel Houellebecq übersetzt diesen Tipp aus der Künstlerseele auf den Beruf des Schriftstellers.

In unserer westlichen Welt ist der Islam, nun ja, sagen wir: nicht der Top-Favorit in der Champions League der Sympathie. Und nun kommt also Michel Houellebecq, Frankreichs literarisches Enfant Terrible, der Skandal-Autor (Plattform – 2001; Elementarteilchen – 1998) mit seinem vor sich her getragenen Weltekel, mit seiner Verachtung für Intellektuelle im Allgemeinen und Professoren sowie Journalisten im Besonderen, und erzählt eine Geschichte, in der ein muslimischer Machtpolitiker nach zwei Amtszeiten von François Hollande mit großer Mehrheit Präsident der französischen Republik wird.

Und alles wird gut. Also, so subjektiv gesehen. Aus der Ich-Erzähler-Perspektive.

Im Roman hat es der Islamismus auch schon in die Regierung der Nachbarstaaten Deutschland, Belgien u.a. geschafft, sodass bald EU-Beitrittsverhandlungen mit Marokko, Tunesien, Ägypten und Libanon in fruchtbarem Gange sind. Das mag dem durchschnittlichen westeuropäischen Zeitungsleser, der beim Stichwort "Islam" langbärtige Turbanträger mit Kalaschnikow im Kopf hat, Albträume auslösen. In Houellbecqs Erzählung, die den Titel "Unterwerfung" trägt, gerät der Islam zur Rettung der westlichen Welt. Ohne Fußnote. Aber natürlich mit dem schwarzen Humor des Monsieur Houellebecq.

Im Zentrum seines Coming-of-Islamglaube-Romans steht ein Literaturwissenschaftler, ein Akademiker, ein Intellektueller, dem gerade sein Leben auseinander fliegt. 44 Jahre ist er alt, nicht verheiratet, vögelt aber jedes Jahr eine neue Erst-Semester-Studentin. Er bedauert das ein bisschen, aber er kann, wie er uns als Ich-Erzähler seines Lebens versichert, gar nichts dafür, denn nicht nur sind Frauen seines Alters und Intellekts faltige, schlaffe Subjekte, außerdem würde sich seine aktuelle Geliebte immer nach den Sommerferien von ihm mit den Worten, sie habe „jemanden getroffen“ verabschieden; wenn er diese Frauen später einmal wieder trifft, konstatiert er, ohne das werten zu können, dass diese Frauen gealtert und vereinsamt sind. So wie er.

Und nun führt er eine On-Off-Beziehung mit der 22-jährigen Myriam, halb so alt wie er, an Konfessionen desinteressierte Tochter jüdischer Eltern. In einem Frankreich, das bei der Präsidentschaftswahl kurz vor dem Sieg der Muslim-Bruderschaft steht. Bevor es soweit ist, ziehen Myriams Eltern nach Tel Aviv und nehmen ihre Tochter mit.

Innerhalb weniger Wochen verliert Professor François, der in seiner Rolle als Ich-Erzähler des Lesers unbedingter Sympathieträger ist, seine jugendliche Geliebte, die bei ihm weniger durch ihren Intellekt besticht, als vielmehr durch ihren „süßen Hintern“ und ihre Künste in der Fellatio, als auch – mit größtzügiger Pension – seinen Dozentenjob an der Sorbonne. Da sitzt er dann in seinem Appartement in der Pariser Chinatown und sieht sein Leben ausgleiten: Mitte 40, keine Familie, kein Job und also keine intellektuellen Herausforderungen – und auch keine jungen Studentinnen – mehr. Unser leidlich atheistischer, leidlich katholisch erzogener Ich-Erzähler ringt, für die restlichen schätzungsweise 40 Lebensjahre vermeintlich perspektivlos, mit Suizid-Gedanken, während seine ehemaligen Kollegen an der neuen, jetzt aus Saudi-Arabien finanzierten Sorbonne, mit üppigen Gehältern und – Stichwort: Polygamie ist im Islam Gesetz – jungen und jüngeren Ehefrauen ausgestattet, in den schönsten Palästen von Paris residieren.

Spätestens an diesem Punkt regt sich im westlich aufgeklärten Leser dieses Romans doch der Widerstand. Aber nicht lange. Houellebecq blendet alle Bilder und Klischees aus, die wir im Salon, auf dem Sofa vor den TV-Nachrichten, bei der Zeitungslektüre haben könnten. In seinem Roman gibt es keine brandschatzenden Taliban, keinen Frauen vergewaltigenden IS, keine Zeigefinger fuchtelnden Ayatollahs. Es gibt einen charismatischen Mann, Mohammed Ben Abess, als Wahlempfehlung der Muslimbruderschaft, den die Franzosen in Koalition mit den drei großen Parteien – Partie Socialiste, der konservativen UMP und der Mitte-Rechts-Partei Union des démocrates et indépendants (UDI) – zum Präsidenten wählen, um nur ja Marine LePens extrem rechten Front National im Elysée zu verhindern: Faschisten? Im Elysée?? Dann doch lieber Muslims!

Der neue, muslimische, Präsident und seine Minister gehen schnell ans Werk. Und statt des beim westlich aufgeklärten Leser auf seinem Sofa zu erwartenden Aufschrei der Gesellschaft fügt es sich, bleibt alles ruhig, weil: Die Kriminalität geht zurück. Auch die Arbeitslosigkeit, weil Frauen aus ihren Berufen gedrängt werden. Bildungs- und Sozialausgaben werden radikal gekürzt, der Kleidungsstil der Frauen wird konservativer. Und irgendwie finden dass immer mehr Männer gar nicht so übel – in diesem Roman vor allem die Männer aus dem akademischen Spektrum, Geistesgrößen, die sich bisher vornehmlich über die mehr oder minder gelungenen – je nach Perspektive des Betrachters – Dissertationen der Kollegen mokiert und also definiert haben, und nun in der männerfixierten Politik des Islam ganz neue Chancen für das eigene, zunehmend verwelkende Leben erkennen. Zum schmunzelnden Verständnis des Romans hilft es, wenn man weiß, wie sehr die real existierenden Franzosen Wert legen auf die Trennung von Staat und Religion, und wie sehr dieselben Franzosen ihre Gelehrten, Akademiker und Professoren in Talkshows verehren – Akademiker sind in Frankreich beinahe unanfechtbare Götter.

In Michel Hoellebecqs Roman sind Akademiker lächerliche Gestalten, denen wir dabei zusehen dürfen, wie sie den gesellschaftlichen Jackpot knacken: Das, was sie lehren und was sie nicht weiter verbreiten dürfen, sagen ihnen die islamischen Führer; das vereinfacht die Vorbereitung des Unterrichtsstoffs. Hinzu kommt die Erkenntnis, dass die Idee der Aufklärung, in der sich jeder Mensch individuell nach seinen Interessen und Wünschen entwickelt, zu deren Untergang geführt hat – wenn jeder sich selbst der Nächste ist, geht die Gesellschaft als Ganzes zugrunde: „Die Nationen waren nichts als eine mörderische Absurdität, und als alle Menschen dies zuvor irgendwie schon geahnt hatten, wurde es für sie ab 1871 sehr wahrscheinlich zu einer Gewissheit; hieraus entsprangen der Nihilismus, der Anarchismus und der ganze andere Dreck.“ Der Niedergang des Abendlands begann – aus Houellebecqs Professoren-Sicht – also schon Mitte des 19. Jahrhunderts. Während uns beim Lesen noch der Kopf schwirrt ob der achterbahnartigen, plötzlich irgendwie nachvollziehbaren Umkehr westlicher Überzeugungen, feiert die neue Elite Frankreichs die Werte der Familie als Keimzelle einer gesunden Gesellschaft; einer Familie mit dem Mann als klaren Patriarchen und der dienenden, fruchtbaren Frau – und von der am besten mehrere; je höher das Gehalt, desto mehr Frauen sind dem Mann erlaubt, denn je höher gestellt der Mann ist, desto sinnvoller ist es, dass der seine Gene an mögliche viele Frauen weiter gibt (die damit gleichzeitig nicht irgendwelchen Losern zur Verfügung stehen müssen).

Als die womöglich schönste Jugenstilbar Europas, im Roman ist das die Bar des Hotel Métropole in Brüssel, geschlossen wird, sieht Professor Rediger, im muslimischen Frankreich auf dem Weg nach ganz oben befindlicher Wendehals, klar: „Europa war bereits an sich selbst zugrunde gegangen. Als Leser Huysmans hat Sie doch sicher sein ausgeprägter Pessimismus, seine fortwährende Verwünschung der Mittelmäßigkeit seiner Zeit erbost. Und dabei lebte er in einer Epoche, in der die europäischen Nationen ihre Blütezeit erlebten, an der Spitze riesiger Kolonialreiche standen und die Welt beherrschten!“ Nun, der pessimistische Blick auf das eine eröffnet eine optimistischen Blick auf das Andere, auch auf das Gegenteil. In Houellebecqs Roman sind der muslimische Glaube, der Koran nicht der Zerstörer der freien Welt, im Gegenteil: Die muslimisch unterfütterte Politik auf westlichem Terrain, ausgeführt für und mit westlich geprägten Menschen erweist sich als ihr Glücksfall – sofern man im Streben nach individuellem Glück auch die Atomisierung des gesellschaftlichen Zusammenhalts erkennt.

Für die politische und gesellschaftliche Grundierung, auf der sich der Islam in Frankreich so populär ausbreiten konnte, ist ein Geheimdienstmitarbeiter zuständig, der unserem Helden gar nicht Geheimdienstartig alle Erkenntnisse der Dienste erläutert; über viele Buchseiten hinweg erzählt der Abendessen Cocktailempfängen, Spaziergängen, wie alles soweit hat kommen können, warum die Identitäten mit dem Le-Pen-Faschismus weniger anfangen können als mit der rigiden Idee der Scharia, welche Ziele der künftige, muslimische, Präsident Frankreichs wirklich verfolgt und so weiter. Das verwandelt den Roman in einen politischen Essay, zwischen dessen Argumenten sich die Geschichte des desillusionierten, vereinsamten und schließich neuen Lebensmut fassenden Professor François entwickelt.

Keimen im westlichen Mann einmal Zweifel ob der Richtigkeit all dieser grotesken Gedanken auf, zieht er sich zurück in die Lektüre des Masochismus-Romans "Die Geschichte der O.": Alles darin „ging mir unheimlich auf den Wecker. Und trotzdem durchzog das ganze Buch eine Leidenschaft, ein Zauber, der alles andere vergessen ließ. 'Es ist die Unterwerfung. Der nie zuvor mit dieser Kraft zum Ausdruck gebrachte grandiose und zugleich einfache Gedanke, dass der Gipfel des menschlichen Glücks in der absoluten Unterwerfung besteht. Das ist ein Gedanke, bei dem ich zögere, ihn meinen Glaubensbrüdern ohne Weiteres darzulegen, die ihn möglicherweise für blasphemisch halten könnten. Aber für mich besteht eine Verbindung zwischen der unbedingten Unterwerfung der Frau unter den Mann, wie sie in Geschichte der O. beschrieben wird, und der Unterwerfung des Menschen unter Gott, wie sie der Islam anstrebt. Der Islam akzeptiert die Welt, und er akzeptiert sie als Ganzes, er akzeptiert die Welt wie sie ist, um mit Nietzsche zu sprechen. Für den Buddhismus ist die Welt Dukkha – Mangel, Leiden. Auch das Christentum hegt ihr gegenüber Vorbehalte – wird Satan nicht als Fürst der Welt bezeichnet? Für den islam hingegen ist die göttliche Schöpfung vollkommen, sie ist ein absolutes Meisterwerk.'

In Houellebecqs atemberaubenden Duktus erscheint das beinahe logisch, sodass man bei der Lektüre zwischendurch manchmal Luft holen muss, um sich im Hier und Jetzt zu versichern. Den Franzosen gelingt das im erzählten Frankreich nicht, denn da sind ja noch die Journalisten, die ihren Job nicht beherrschen und, anstatt die Menschen aufzuklären, sie im Stich lassen: Journalisten haken nicht nach, schreiben nicht, wenn sie Dinge, Begriffe nicht verstehen: „Die fehlende Neugier der Journalisten war für Intellektuelle (die dem Islam in Frankreich den Weg in die höchsten Kreise geebnet hatten, die Red.) wirklich ein Segen, denn das alles konnte man längst im Internet finden. Aber vielleicht täuschte ich mich ja auch, sehr viele Intellektuelle hatten im Laufe des 20. Jahrhunderts Stalin, Mao oder Pol Pot unterstützt, ohne dass ihnen das jemals ernsthaft zum Vorwurf gemacht worden wäre; der Intellektuelle in Frankreich musste nicht verantwortlich sein, das lag nicht in seinem Wesen.

Es um die Gier in Hoellebecqs Welt. Um die Gier nach Macht und die Gier nach möglichst widerstandsloser Befriedigung. Die Mächtigen haben dazu Regeln aufgestellt und unumstößliche Erklärungen geliefert, die ihnen ihre Macht sichert.

It's a man's world! Egal, welcher religiose Stempel drauf pappt.

Ich habe "Unterwerfung" zwischen dem 4. und 6. Juni 2025 gelesen.