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Plakatmotiv: Tausend Zeilen (2022)

Ein deftiger Blick in die Redaktion
des deutschen "Qualitätsjournalismus'"

Titel Tausend Zeilen
Drehbuch Hermann Florin
nach dem Buch "Tausend Zeilen Lüge" des Spiegel-Journalisten Juan Moreno
Regie Michael "Bully" Herbig, Deutschland 2022
Darsteller

Elyas M’Barek, Jonas Nay, Michael Ostrowski, Michael Maertens, Jörg Hartmann, Marie Burchard, Sara Fazilat, Ibrahim Al-Khalil, David Baalcke, Christian David Gebert, Christian Heiner Wolf, Katrin Schmölz, Jeff Burrell, Marcus Morlinghaus, Kurt Krömer u.a.

Genre Drama
Filmlänge 93 Minuten
Deutschlandstart
29. September 2022
Inhalt

Der eine hat Erfolg, der andere hat Zweifel. Der freie Journalist Juan Romero findet Ungereimtheiten in einer Titelgeschichte des preisgekrönten Reporters Lars Bogenius.

Doch die Chefetage des Nachrichtenmagazins "Chronik" hält vorerst konsequent zu ihrem gefeierten Edelschreiber und versucht, Romeros Suche nach der Wahrheit zu ignorieren. Zu sehr haben die Chefs auf ihren jungen Shootingstar gesetzt, da darf es einfach keine Unregelmäßigkeiten geben.

Doch Romero ist nicht zu stoppen. Bei seiner Recherche geht er buchstäblich an Grenzen, bis er nichts mehr zu verlieren hat – außer seinem Job, seinem Ruf und seiner Familie …

Was zu sagen wäre

2018 aufgedeckt. 2019 als Buch vermarktet. Jetzt, 2022, der Film zum Buch zum Skandal. Es geht um etwas ähnliches wie Hitlers Tagebücher 2.0. Das bis dato angesehene deutsche Magazin "Stern" hatte diese "Tagebücher" 1983 veröffentlicht. Wenige Wochen später war klar, Redaktion und Verlag waren einer Fälschung aufgesessen, noch dazu einer plumpen. Das gab den Stoff für Helmut Dietls Mediensatire Schtonk! (1992).

2018 traf es das renommierte Nachrichtenmagazin "Der Spiegel", als der freie Reporter Juan Moreno aufdeckte, dass der festangestellte, mit Reporterpreisen geehrte Starreporter des Hauses, Claas Relotius, viele seiner Geschichten frei erfunden, mehr oder weniger erfunden oder mit fiktiven Elementen aufgepfeffert hatte. Ein handfester Medienskandal in einer Zeit, in der der Journalismus im Feuer steht, sich dem pauschalen Verdacht der „Lügenpresse“ ausgesetzt sieht und in der Alternative Fakten als plausible Alternative zur Wirklichkeit akzeptiert werden.

Juan Moreno schrieb die Geschehnisse, die ihn möglicherweise seine Karriere in der ersten Reihe des bundesdeutschen Journalismus hätte kosten können, in dem Buch "Tausend Zeilen Lüge" auf. Aus seiner Sicht. Michael "Bully" Herbig, deutscher Filmregisseur (Ballon – 2018; Bullyparade – Der Film – 2017; Buddy – 2013; (T)Raumschiff Surprise – Periode 1 – 2004; Der Schuh des Manitu – 2001; "Erkan & Stefan" – 2000), hat aus dem Stoff des Buches seine Sicht destilliert: Drama, Satire und gleich zu Beginn der Hinweis
Dieser Film ist eine Fiktion. Vieles ist aber genauso passiert. Das meiste haben wir uns allerdings ausgedacht.
Ganz ehrlich!
Wieviel an dieser Vorbemerkung anwaltlicher Ratschlag ist, um sich mit dem Film nicht in juristischen Fallstricken zu verheddern, sei dahin gestellt, auch über Situationen in Morenos Buch hieß es, dies oder das sei so gar nicht gewesen. Schließlich ist es ja so, dass nie jemand wirklich die ganze Wahrheit sagen kann, weil: Was ist schon die Wahrheit? Die ist immer subjektiv. In US-Filmen steht da dann Based on true events und dann wird sauber drauf los fabuliert.

Was also haben sich Herbig und sein Drehbuchautor Hermann Florin „ausgedacht“? Der Film "Tausend Zeilen" erzählt die Geschichte chronologisch, bildet den Verlauf der Geschehnisse ab und wer den Skandal damals in der Presse verfolgt hat, erkennt vieles wieder. Es ist die Geschichte eines Mannes, der seinen Berufsstand, seine Integrität und seine Familie in Gefahr sieht und sich gegen die Mächtigen auflehnt. Die Mächtigen sind in diesem Fall der stellvertretende Chefredakteur der "Chronik", des größten journalistischen Magazin Europas, das sich dem Auflagenschwund gedruckter Medien gerade noch so erwehren kann, sowie der Ressortleiter "Reportage", die ihren Starreporter Bogenius gepusht haben und durch ihn nun Karriere machen – aus dem stellvertretenden soll der neue Chefredakteur, aus dem Ressortleiter der neue stellv. Chefredakteur werden; und Bogenius soll das Reportage-Ressort übernehmen. Es ist also die klassische David-gegen-Goliath-Geschichte: Juan Romero hat kaum eine Chance. Aber die nutzt er. Mit den Mitteln seines Berufsstandes, der Recherche, ringt er den Goliath schließlich nieder.

Herbig und Florin haben nicht Bogenius, den Zentrum des Skandals, in den Mittelpunkt ihres Films gestellt, oder die hohen Redakteure. Das wäre der Schtonk!-Weg gewesen. Helmut Dietl hatte 1992 in seiner Satire über die gefälschten Hitlertagebücher die Geschichte aus Sicht der Chefredaktion, der Verlagsleitung und eines windigen Reporters erzählt, die allesamt aus Geltungssucht, Egomanie und einer unterschwelligen Schwäche für echte Nazis auf einen begabten Fälscher hereinfielen. Der Film goss ordentlich Spott über den "Stern" und seine damals Leitenden aus; aber das war neun Jahre nach dem Skandal, als der schon ordentlich aufgearbeitet und wissenschaftlich durchdrungen war. Die Erkenntnisse konnte der großartige Erzähler Dietl wunderbar in seine Satire einbauen.

Der Fall Relotius liegt gerade mal vier Jahre zurück. Immer noch wird sich gestritten, wie es soweit kommen konnte, und dass der "Spiegel" nicht einen ähnlichen Absturz erlebt hat, wie damals der "Stern", liegt wahrscheinlich nur daran, dass erst Spiegel-Reporter Juan Moreno den Fall aus dem eigenen Haus aufgedeckt hat, und der "Spiegel" dann jeden Buchstaben aller Relotius-Reportagen umdrehte und gegenrecherchierte, die Erkenntnisse veröffentlichte und „in eigener Sache“ ordentlich Asche aufs eigene Haupt schüttete. Aber das System dahinter ist noch nicht ansatzweise aufgedröselt, die Frage, wie es sein kann, dass ein "Spiegel", der sich für seine Dokumentationsabteilung rühmt (und gerühmt wurde), derart übers Ohr hauen lässt, jahrelang, diese Frage ist nicht bis in die Tiefe geklärt. Drehbuchautor Florin hätte also weitgehend spekulieren, über böse Motivationen ins Blaue fabulieren müssen und Bully Herbig hätte daraus eine Farce über bundesdeutschen Journalismus machen müssen, in der eine groteske Verzerrung eines Verlagshauses im Mittelpunkt gestanden hätte mit Knallchargen an deren Spitze – der böse Journalismus halt, wie man ihn in Form verranzter Reporter mit Schmierblock bisweilen noch im sonntäglichen Tatort vorgeführt bekommt.

Herbig hat sich für die Heldengeschichte entschieden. Für den Helden mit freundlicher Familie – bloggende Ehefrau, vier kleine Töchter. Sein Gegenspieler, Lars Bogenius, dessen Nachname an den englischen Begriff „bogus“ erinnert („gefälscht“), ist ein raffinierter Blender, der seine abenteuerlich anmutenden Reportagen am Pool schicker Hotels entwirft, nie um eine Antwort auf kritische Fragen verlegen ist und die im Haus ungeliebten, grauen Rechercheure der Dokumentationsabteilung mit der Sonne seiner Aufmerksamkeit beschenkt. Er ist Einzelgänger, wir erfahren wenig über ihn über seine Lügen hinaus. Warum er tut, was er tut, wird nicht explizit dargelegt. Aber längst ist er an dem Punkt, an dem er alleine nicht mehr umdrehen kann. Die Kamera folgt seinem bösen Tun ausführlich, denn die tatsächliche Recherche, die unser Held Romero derweil betreibt, besteht aus fleißigem Lesen, Telefonieren und Gegenchecken – für einen Kinofilm bietet das wenig spektakuläre Bilder; wieviel spektakulärer ist es da zu zeigen, wie ein Betrüger betrügt! Wir sehen die Lügen, die Bogenius spinnt, und wenn er diese Lügen verwirft, weil sie ihm selbst zu abgedreht erscheinen, bleibt das Bild auf der Leinwand einfach stehen, bis die Lüge plausibler formuliert ist und sich das Bild mit der neuen Erzählung wieder bewegt. Die Figuren brechen mehrfach durch die vierte Wand und sprechen direkt mit den Zuschauern. Anders wären die bisher bekannten Hintergründe des Skandals kaum greifbar.

Ein bisschen in die unschönen Tiefen des Systems Redaktion geht der Film schon; also, warum diese Lügen aufgetischt werden können. Ressortleiter Rainer Habicht diktiert seinen beiden Reportern einen minutiösen Reportagewunsch über einen Text über Flüchtende an der mexikanischen Grenze, auf die auf US-Seite eine schießwütige Bürgermiliz wartet: „Auf der einen Seite ein Typ an der Grenze zur USA, Teil einer zivilen Miliz, Trump-Wähler – logisch – macht mit seinen Kumpels Jagd auf illegale Flüchtlinge, natürlich nur, um sein geliebtes Land zu beschützen. (…) Auf der anderen Seite (…) Weißte, am besten wär' so 'ne Mutter, die allein unterwegs ist, die mit ihrer kleinen Tochter auf dem Arm zu Fuß tausende Kilometer läuft, um das Land ihrer Träume zu erreichen, lässt sich von irgendwelchen Schleppern über die Grenze schmuggeln, die wiederum von der US-Miliz verteidigt wird.“ Bei solchen Recherche-Vorgaben bleiben Reportern vor Ort kaum noch Möglichkeiten zu berichten, wie es wirklich ist. Das Bittere an der hier zitierten Themenanweisung ist, dass es sie so ähnlich tatsächlich gab. Der "Spiegel" selbst machte in seiner großen Recherche in eigener Sache öffentlich, dass solche Anweisungen im Haus keine Einzelfälle waren. Bogenius rechtfertigt sich schließlich, dass die Realität eben langweilig sei und langweilige Realität wolle keiner lesen. Leser wollten auch nicht lesen, was sie nicht wissen, sie wollten ja nicht als doof gelten. Leser wollten lesen, was sie selber für die Wahrheit halten und sich dadurch bestätigt sehen. Davon sind sie bei der "Chronik" überzeugt.

Dass am Ende der Held von seiner Branche gefeiert wird (was der reale tatsächlich wurde) und ihn seine knuffigen Töchter und die Ehefrau wieder lieb haben, ist dabei ein nur etwas glitschig geratenes Happy End nach einem unterhaltsamen, informativen Film. Mit dem bitteren Nachgeschmack beim Verlassen des Kinos, dass sich der Fall Relotius wiederholen wird. Früher oder später.

Wertung: 6 von 8 €uro
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