Buchcover: Robert Menasse – Die Hauptstadt

Verzweifelte Sehnsucht
nach einer Utopie

Titel Die Hauptstadt
Autor Robert Menasse, Österreich 2017
Verlag Suhrkamp
Ausgabe E-Book, 459 Seiten
Genre Roman
Website suhrkamp.de
Inhalt

Fenia Xenopoulou, Beamtin in der Generaldirektion Kultur der Europäischen Kommission, steht vor einer schwierigen Aufgabe. Sie soll zum 50. Geburtstag der Kommission deren Image aufpolieren. Aber wie?

Sie beauftragt den Referenten Martin Susman, eine Idee zu entwickeln. Die kommt ihm auf einer Dienstreise nach Polen. Auschwitz muss den Mittelpunkt der Feierlichkeiten bilden. Die Überlebenden des KZs sollen der Kommission ein Gesicht verleihen und gleichzeitig eine moralische Mission. Was ist der unique selling point der Kommission? Natürlich! Es ist ganz einfach: ihr Anspruch, die Nationalinteressen zu zähmen.

David de Vriend dämmert in einem Altenheim gegenüber dem Brüsseler Friedhof seinem Tod entgegen. Als Kind ist er von einem Deportationszug gesprungen, der seine Eltern in den Tod führte. Nun soll er bezeugen, was er im Begriff ist zu vergessen.

Auch Kommissar Brunfaut steht vor einer schwierigen Aufgabe. Er muss aus politischen Gründen einen Mordfall auf sich beruhen lassen; „zu den Akten legen“ wäre zu viel gesagt, denn die sind unauffindbar. Und Alois Erhart, Emeritus der Volkswirtschaft, soll in einem Think-Tank der Kommission vor den Denkbeauftragten aller Länder Worte sprechen, die seine letzten sein könnten …

aus dem Klappentext

Was zu sagen wäre
Die HauptstadtRobert Menasse träumt die Utopie eines Vereinten Europas, über „die Sehnsucht nach Wiederentdeckung und Erinnert-Werden und die Würde einer Idee, die schöner ist als all das Geröll, unter dem sie begraben wurde.“ Sein Buch ist eine sarkastische Abhandlung eines Molochs in Brüssel, ein ironischer Gesellschaftsroman mit Krimielementen. Am Beispiel zahlreicher Figuren und Erzählstränge entwirft er ein schillerndes Panorama der europäischen Eliten. Es sind eitle Spreizer, idealistische Querköpfe oder – die wenigstens – glühende Verfechter der europäischen Idee; letztere teilen sich in Menschen, die den Ursprung der Idee noch mitbekommen haben und solche, die die Idee einfach gut finden. Das Schicksal, das Menasse den Verfechtern zubilligt, ist die böse Logik seines Roman – aussterben und vergessen werden.

Menasses Brüsseler Personal sind lauter Menschen, die zum Scheitern verurteilt sind. Der Mensch als solches, sagt Menasse, „ist, bevor er war, ewig nicht gewesen. Und er kann vorausdenken, vom Moment seines Todes an in alle Zukunft, er wird zu keinem Ende kommen, nur zu dieser Einsicht: Er wird ewig nicht mehr sein. Und das Zwischenspiel zwischen Ewigkeit und Ewigkeit ist die Zeit – das Lärmen, das Stimmengewirr, das Maschinengestampfe, das Dröhnen von Motoren, das Knallen und Krachen der Waffen, das Schmerzensgeschrei und die verzweifelten Lustschreie, die Choräle der wütenden und der freudig betrogenen Massen, das Donnergrollen und Angstkeuchen im mikroskopischen Terrarium der Erde.

Es sei Auschwitz gewesen, dass am Anfang der europäischen Idee stand, heißt es im Roman, beziehungsweise der Ruf „Nie wieder Auschwitz!“ und Menasse schreibt über die Anfangsjahre dieser Idee, wie heißblütig alle einen egoistischen Nationalismus für die Auswüchse des Dritten Reichs verantwortlich gemacht hätten, und da kann ein idealistischer EU-Beamter auch auf die eigentümliche Idee kommen, Auschwitz in den Mittelpunkt einer Golden-Jubilee-Feier zur Imagepolitur der Kommission zu stellen und dafür KZ-Überlebende die EU in Testimonials feiern zu lassen. Es braucht nicht viel Fantasie, um vorauszusehen, dass die Idee, dem europäischen Bürokratismus mit Moral beizukommen, zum Scheitern verurteilt ist. Denn der Europäische Rat als Repräsentant der EU-Länder ist mächtig, das Jubilee Project ein Affront gegen alle Nationalinteressen und ein Unruhefaktor innerhalb des europäischen Institutionengeflechts, in dem nicht Karriere macht, wer die richtige Portion europäischen Furor hat, sondern wer den richtigen nationalen Pass besitzt.

Der Kommissionspräsident überlässt das Jubilee-Projekt seiner Selbstopferung – er schaltet den Rat und das Parlament ein. Die Folge: Die Polen wollen mit Auschwitz nicht identifiziert werden. „Warum die Juden? Warum nicht der Sport?“ Die Österreicher wollen ihre Nation nicht in Frage gestellt sehen. Die Tschechen und die Slowenen fühlen sich übergangen, in ihrer Ehre gekränkt. Die Deutschen merken an, in Deutschland lebende Muslime könnten sich durch die Fokussierung auf das Schicksal der Juden in Europa ausgeschlossen fühlen.

Menasse ist mit seinem Roman auf der Höhe seiner Zeit. In den Fluren der europäischen Macht hausen geschickte Taktierer und neidische Karrieristen, die ihre Zeit in Think Tanks verbringen, in deren Sitzungen keine Ideen geboren, sondern Kringel und Kästchen auf Flipcharts gemalt werden, „ … – nur: So funktionierte weder die Welt noch irgendeine Gegenwelt, sicherlich auch nicht die Nachwelt. Aber man musste nur ein Kästchen für die Idealisten machen, in ein Kästchen eines ihrer Ideale hineinschreiben, ein paar Pfeile von diesem Kästchen hinauf zum Präsidenten machen, ein paar Pfeile von unten hin zu diesem Kästchen, dabei ausrufen: Demand-driven, bottom-up, nicht top-down, und schon hatte man im Gewirr der Pfeile und Verbindungslinien ein Netz, in dem die Idealisten gefangen waren.“ Am Ende steht der Vorschlag: Mehr Wachstum generieren! Wunderbar ist dieses Buch, wenn es diese Mechanismen der Macht be- und durchleuchtet, wo es glaubwürdige Miniaturen eitler Sprechpuppen an den Fäden machtbewusster Großkonzerne malt.

Menschen mit Haltung und wahrem Interesse an einem geeinten Kontinent finden sich nur außerhalb der Institutionen. Zum Beispiel den Holocaust-Überlebenden David de Vriend, der seine letzten Tage in einem Altersheim verbringt, oder den Wirtschaftswissenschaftler Professor Alois Erhart, der zum Ende eines Referates im „New Pact for Europe“-Think Tank die Utopie formuliert: „Europa muss eine Hauptstadt bauen. Eine neue Stadt, deren Errichtung die Leistung der Union ist, und nicht eine alte Reichs- oder Nationshauptstadt, in der die Union nur Untermieterin ist“ – und zwar obendrein noch auf dem Gelände von Auschwitz!

Die Europäische Union, die Robert Menasse, ein glühender Verfechter der Europäischen Idee, ist nicht zu retten: Auschwitz wolle außer in Sonntagsreden keiner mehr hören, große Handelsverträge mit China scheitern schonmal daran, dass ein britischer Beamter beleidigt ist, und die einzelnen Instiitutionen sind derart bürokratisch-nationalistisch verkeilt, dass jeder Kompromiss ausgeschlossen werden kann. Im Buch beschreibt das ein Kriminalbeamter anhand internationaler Terrorfahndung: „Jeder Staat will natürlich alles von den anderen wissen, aber keiner will etwas herausrücken. Da kommen sie mit ihren Verfassungen – was ihnen alles die nationale Verfassung leider, leider nicht erlaubt. Das heißt, da bewegt sich nichts, jede Information wird zu einer Nadel im Heuhaufen. Es gibt immer einen, der weiß, wo die Nadel steckt, aber wer weiß, wo dieser eine steckt, der das weiß? Das heißt, wir haben zwei Heuhaufen. Nein, wir haben Hunderte Heuhaufen, und in zweien steckt je eine Nadel, die wir suchen. Aber wenn es gelingt, sie zu finden, dann heißt das, dass wir den Safe gefunden haben, in dem das verwahrt ist, was uns interessiert. Nun müssen wir den Safe knacken. Und wenn das gelingt, dann ist das Erste, was wir beim Öffnen des Safes sehen, ein neuer Tresor mit einer noch komplizierteren Kombination. (…) Wenn ein Terroranschlag passiert ist, dann gab es in allen Sicherheitsstufen und auf allen Ebenen hinter vielen verschlossenen Tresortüren alle Informationen, die geeignet gewesen wären, diesen Anschlag zu verhindern. Aber sie wurden nicht zusammengeführt. Das erfahren wir dann manchmal aus den Zeitungen. Und dann muss irgendwo in Europa ein Innenminister zurücktreten.

Und während also die hochgebildeten Experten in ihren Bürofluchten streiten, sich in Bistros zu Meetings verabreden – „In Brüssel zählte man Anwesenheit nicht in Jahren, sondern in Kilo.“ – und das Rauchen wieder anfangen, hat sich der einfache Bürger von diesem Monster ab- und sich einem Schwein zugewandt, das bisweilen in der Stadt gesichtet wird und für Schlagzeilen, Shitstorms und sogar handfeste Skandale sorgt.

Das Buch ist zur Buchmesse 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden. Die Hauptstadt sei „ein vielschichtiger Text, der auf meisterhafte Weise existenzielle Fragen des Privaten und des Politischen miteinander verwebt und den Leser ins Offene entlässt“, begründet die siebenköpfige Jury ihre Wahl. „Dramaturgisch gekonnt gräbt er leichthändig in den Tiefenschichten jener Welt, die wir die unsere nennen.“ Das Humane sei immer erstrebenswert, aber niemals zuverlässig gegeben, so die Jury. „Dass dies auch auf die Europäische Union zutrifft, das zeigt Robert Menasse mit seinem Roman Die Hauptstadt auf eindringliche Weise.

Ich habe „Die Hauptstadt“ vom 21. Oktober bis 1. November 2017 gelesen.