Reiner ist Mitte zwanzig und arbeitet bei der Deutschen Post. Er sammelt Laptops und wird damit nicht nur zu einem Experten einer lange vergangenen Zeit. Das Internet ist seit Jahrzehnten abgeschaltet, die Statussymbole von früher sind nur noch Elektroschrott.
Der schüchterne Computernerd wird auch zum Begründer einer Jugendbewegung, die sich auf Industriebrachen versammelt und das verklärt, was es früher wohl einmal gab – die Freiheit einer Gesellschaft, die alles miteinander teilt.
Mit Hilfe einer Autobatterie gelingt es Reiner, eine Verbindung zu lange stillgelegten Servern herzustellen. Die Jugendlichen sehen, was seit Jahrzehnten keiner mehr gesehen hat: das Internet …
aus dem Klappentext

Das ist einer dieser Romane, die viel wollen und wenig sind. Josefine Rieks will uns irgendwie erklären, dass die Menschheit nicht zu retten ist. In einer nahen, nicht näher definierten Zukunft, so die Prämisse dieses Romans, gibt es kein Internet mehr. Eine Gesellschaft im Analogen gibt es wohl noch, aber wie die aussieht – leben Menschen noch in Reihenhäuschen, gehen sie irgendwelchen Jobs nach? – bliebt im Nebel vieles nicht Gesagten. Es werden wieder Briefe verschickt (der Ich-Erzähler arbeitet bei der Deutschen Post, lässt sich aber meistens krank schreiben), zum Kommunizieren geht man zur nächsten Telefonzelle, und wer sich verirrt, fragt Passanten nach dem Weg. Rieks’ Zukunft ist farblos. Ihre Beschreibungen abseits einiger Schultheiss-Kneipen lassen keine Vorstellung zu. Größtenteils spielt die Geschichte auf großen Industriebrachen, auf denen die alten zurück gelassenen Serverfarmen von Google und Co. herumstehen.
Warum die noch da stehen, obwohl die nutzlos herumstehende Hardware sicher einen Wert hat, den der industrielle Mensch verwerten könnte, bleibt unklar, ebenso, wie die Frage, warum eigentlich „das Internet abgeschaltet“ wurde – es gab zwanzig Jahre nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ein Referendum, nach dem das Internet gekappt wurde; mehr erfahren wir nicht. Die alten Tage der Netzwerkgesellschaft sind mit einem Tabu belegt. Reiner, der Protagonist des Romans, sammelt in Vergessenheit geratene Relikte aus dieser Zeit, alte Laptops und Computerspiele. Objekte, die einst für menschlichen Fortschritt standen.
Aus den alten Serverfarmen sammeln junge Leute fleißig Youtube-Videos, die auf den einzelnen, nicht mehr vernetzten Servern noch lagern, ergehen sich in großer Heimlichkeit, weil sie Angst vor der Polizei haben – nicht, weil sie hier eingebrochen sind, sondern weil sie Content sammeln. Und weil die Jugendlichen ununterbrochen von Freiheit und Globalisierung und Öffnung raunen, scheint Europa – die Geschichte spielt in Deutschland und den Niederlanden – unter einer irgendwie gearteten, soften Diktatur zu stehen.
Produktives entsteht aus der mutmaßlich illegalen Aktion nicht. Es ist wie ein großes Zeltlager ohne Zelte. Die jugendlichen Nerds bilden Komitees, stellen Regeln auf wie, dass man einen Videoabend nicht mit denselben Videos ein zweites Mal machen darf; ansonsten sitzen sie herum, trinken Bier, rauchen Gras, ziehen Videos von den Servern und sind zwischendurch mal eifersüchtig. Ja, Emotionen zwischenmenschlicher, romantischer Art kommen auch vor, aber immer nur ein paar Zeilen lang, dann geraten schon wieder die alten Videos in den Fokus, in denen sie digitale Schätze aus der Vergangenheit zu erkennen glauben. Diese erzählte Zukunft ist unser, der Leser Gegenwart, verpackt in eine Vergangenheit. Die digitalen Archäologen halten für subversiv, was sie in den Videos sehen, etwa einen Striptease, der erst endet, wenn der Mann sich bis auf seine Knochen ausgezogen hat, oder einen Mann, der im Zoo vor einem Elefantengehege steht (offenbar das viel zitierte allererste Video, das auf Youtube hochgeladen wurde).
Rieks belässt es bei der Faszination, die die Videos bei den Nerds auslöst. Sie halten die Filmchen für hintergründige, große Kunst. Da spiegelt sich in der undefinierten Zukunft die irrige Faszination für Albernheiten, in die mehr hinein geheimnist wird als tatsächlich drin steckt – Videos, die schon in unserer Gegenwart nicht mal albern zu nennen sind, halten sie für bedeutende Nachrichten aus einer besseren, aufgeklärteren Welt. Die Idee, eine Gesellschaft zu entwerfen, die sich aus Gründen vom Internet abgenabelt hat, aber noch dessen Nachwehen spürt, hätte eine spannende Utopie oder Dystopie werden können, bietet aber in "Serverland" außer vernebeltem, bekifftem Szene-Talk lediglich den ratlosen Blick eines Außenstehenden auf die Hysterie des Internets.
Reiner und seine Kommunarden möchten schließlich das Internet wieder zum Laufen bringen. Dafür brauchen sie eine genügend große gesellschaftliche Bewegung. Also schickt er seine vom Server gesammelten Videos analog viral: Er brennt sie auf DVDs, verschickt sie mit der Post und hofft, dass möglichst viele Empfänger kommen und begeistert sind von diesem www, das um die Jahrtausendwende entstanden war, in der Reiner „die absolute Spitze der menschlichen Entwicklung“ vermutet. Die Neuankömmlinge, die dann, angezogen durch das, was sie auf DVD in ihren Briefkästen gefunden hatten, auf der Industriebrache erscheinen, sind an Gesellschaftsveränderung und Bewusstseinserweiterung gar nicht interessiert. Sie sehen es nicht als ein politisches Werkzeug, das Freiheit bringt. Sie wollen einfach nur feiern und Videos schauen. Damit sind sie den heutigen Internet-Usern nicht ganz unähnlich.
Beim Surfen entdeckt Reiner Let's Play-Videos. Sie zeigen Computerspiele, die von Gamern gespielt und in Echtzeit kommentiert werden. „Wozu hatte jemand Computerspielmitschnitte angefertigt und online gestellt? Wegen so etwas wie einer kommunistischen Vision?“ Über diesen einen lustigen, beinahe satirischen Blick auf unser Hier und Heute geht der Blick in die Zukunft nicht hinaus.
Der Roman bleibt 170 Seiten lang Hülle, dringt nie zu einem Kern vor.
Ich habe "Serverland" zwischen dem 11. und 13. Juni 2025 gelesen.
Die Autorin:
Josefine Rieks wurde 1988 in Höxter geboren, studierte Philosophie und lebt in Berlin. Sie schrieb das Drehbuch zum No-Budget-Film "U3000 – Tod einer Indieband". 2017 erhielt sie das Alfred Döblin Stipendium.
"Serverland" ist ihr erster Roman. Er wurde vom "Spiegel" zu den wichtigsten Büchern der Saison gezählt und im gesamten deutschsprachigen Feuilleton breit besprochen. 2022 wurde eine Bühnenfassung von den Landungsbrücken Frankfurt (Main) uraufgeführt. Der Westdeutsche Rundfunk produzierte eine zweiteilige Hörspieladaption unter der Regie von Gerrit Booms.
Ihr zweiter Roman "Der Naturbursche" erschien 2022 als erste Romanveröffentlichung des Berliner XS-Verlags und erregte vor allem in linken Medien Aufmerksamkeit.