Buchcover: Jonas Hassen Khemiri – Die Schwestern (2023)

Ein prall gefülltes, zeitgenössisches
Panorama sehr heutiger Menschen

Titel Die Schwestern
(Systrarna)
Autor Jonas Hassen Khemiri, Schweden 2023
aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein
Verlag Rowohlt
Ausgabe E-Book, 736 Seiten
Genre Drama
Inhalt

Für Jonas ändert sich alles, als Ina, Evelyn und Anastasia in seine Nachbarschaft ziehen. Die ernsthafte Ina, die verträumte Evelyn und die chaotische Anastasia faszinieren ihn, nichts will er mehr, als in ihrer Nähe zu sein.

Über dreißig Jahre kreuzen sich ihre Leben immer wieder, vor allem aber verbindet sie ein Fluch: dass man alles, was man liebt, verlieren wird …

Die Mikkola-Schwestern

  • Anastasia, die jüngste Schwester, ist bald zwanzig und will eigentlich Künstlerin werden. Doch laut Ina hat sie noch nie ein Projekt zu Ende geführt, ist rastlos und unorganisiert. Während der Schulzeit wurde sie Krähe genannt, doch Anastasia ist keine, die sich unterkriegen lässt. Sie versucht als einzige, die Sprache ihrer Mutter zu lernen, und sucht nach ihren Wurzeln. Also geht sie für einen Arabisch-Kurs nach Tunesien, wo sie Daniela kennenlernt, ihre große Liebe, die ihr Leben für immer verändern wird.
  • Evelyn ist immer von Menschen umgeben – sie ist wunderschön und eine großartige Geschichtenerzählerin, laut Anastasia wechselt sie ihre Freunde jedoch wie andere Leute ihre Unterwäsche. Sie arbeitet schon seit einer halben Ewigkeit in einer Kleiderboutique, ist eine Träumerin und weiß nicht so richtig, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Vielleicht einfach Schauspielerin werden? Der Familien-Mythos, der besagt, dass der Großvater der Mikkola-Schwestern einer der Männer ist, die man auf dem berühmten Foto vom Bau des Rockefeller Centers weit über der Erde auf einem Stahlpfeiler sitzen sieht, zieht Evelyn schließlich nach New York.
  • Ina ist die älteste der Mikkola-Schwestern und wäre fast Profi-Basketballerin in der NBA geworden, schreibt inzwischen aber an ihrer Dissertation über Makroökonomie. Sie ist die vernünftigste der drei – weshalb ihr auch oft vorgeworfen wird, langweilig zu sein. Sie liest viel und hält verantwortungsbewusst den Kontakt zu ihrer Mutter, zu der die Schwestern kein einfaches Verhältnis haben. Sie sortiert ihr Gewürzregal alphabetisch, und obwohl Anastasia und Evelyn sich oft über sie lustig machen, ziehen sie beide zu ihrer großen Schwester, als sie ihre Wohnungen aufgeben müssen.
Was zu sagen wäre
Die Schwestern

Mit einem Fluch ist nicht zu spaßen. Gar nicht mit solchen, die wir aus Fantasyfilmen und Stephen-King-Romanen kennen, aber auch nicht mit solchen, die von Tanten im Familienkreis ausgesprochen werden. So ein Fluch steht im Mittelpunkt dieses Romans, der mehrere Jahrzehnte umspannt und vier Menschen beim Werden, Leben, Scheitern und Weiterleben zuschaut. Ausgesprochen hat den Fluch die tunesische Tante der drei Schwestern Ina, Evelyn und Anastasia gegen deren Mutter. Diese werde verlieren, was immer sie liebe. Deswegen zieht diese Mutter, die nach Schweden ausgewandert ist, nun immer wieder um, von einer Wohnung in die nächste; kaum haben die drei Schwestern Kontakte zu Mitschülerinnen und Mitschülern geknüpft, gar Freunde gefunden, müssen sie wieder ihre Sachen packen. Die Frage, ob der Fluch wirklich funktioniert, stellt sich auf diese Weise gar nicht erst, weil dessen Voraussetzung, jemanden zu lieben, gar nicht erst zugelassen wird.

Jonas erzählt die Geschichte als Ich-Erzähler, wechselt pro Kapitel aber aus seiner Perspektive in die des olympischen Erzählers, der immer über eine, mal zwei oder alle drei Schwestern berichtet. Die reden meistens englisch miteinander, weil ihre Mutter sie auf ein Leben in den Vereinigten Staaten vorbereiten will, wohin die Schwestern dereinst auswandern sollen. Es dauert keine zehn Seiten, da bin ich diese Schwestern, in die eine mehr, in die andere weniger, verliebt, wobei der Verliebtheitszustand wechselt; keine schlechte Voraussetzung für einen dicken Roman. Jonas erzählt mal in großen Sprüngen, mal detailreich über die Entwicklung und ist dabei recht deckungsgleich mit dem Autor des Romans: „Wir meldeten uns an, ich sagte meinen Nachnamen zweimal, beim dritten Mal buchstabierte ich ihn mithilfe schwedischer Vornahmen, Kalle Harald Erik Martin Ivar Rickard Ivar, bis sie mich schließlich auf ihrer Liste fanden.“ Jonas ist Schriftsteller und die Titel seiner Werke sind identisch mit denen des Autors Khemiri.

Diese biografische Überschneidung von Autoren und ihren Figuren, bei der unklar bleibt, wo Fiktion endet und reale Biografie beginnt, ist ein Kunstgriff, der nicht stört, dessen Sinn sich mir aber nicht erschließt. Im Laufe der Jahrzehnte begegnet der Roman-Jonas den Schwestern immer wieder. Als Kind ist er mit Evelyn, der mittleren der drei, mit dem Fahrrad um die Häuser gezogen, war, wie alle Jungs und später alle Männer, unsterblich in sie verliebt. Evelyn wird als bezaubernde Schönheit ohne Makel beschrieben, die der Schwärmerei um sie herum zunehmend gelangweilt gegenüber tritt, dabei routiniert in jeder Runde mit blumigen, elegant formulierten Geschichten zu unterhalten versteht. Für ihr eigenes Leben hingegen findet sie keine Geschichte; aus dem Aufwachsen ohne Wurzeln zu schlagen hat sie keine Ziele entwickeln können.

Ander als Ina, die älteste, deren Wurzeln in der Familie selbst liegen. Weil die Mutter immer unterwegs ist, billige Teppiche als handgeknüpfte Qualitätsware an ahnungslose Kunden verscherbelt, hat Ina früh gelernt, Verantwortung für die jüngeren Geschwister zu übernehmen. Sie gilt im Kontext des Buches allgemein als langweilig, wird vom Khemiri (dem Autor, nicht der Romanfigur) aber genauso liebevoll beschrieben, wie die anderen beiden Schwestern – und dass sie etwas zu groß geraten ist und einen gewissen Ordnungsfimmel hat, lässt sie auch nur fragwürdig erscheinen im Auge wie denen von Anastasia, der jüngsten, die kifft, kokst, trinkt, gerne tanzt, ihre Aufnahmeprüfung an der Kunsthochschule nicht in den Griff bekommt und trotzdem nach ein paar Jahrzehnten des Tingelns beruflich durchstartet und eine Wohnung im teuersten Stadtviertel Stockholms kauft.

Das Leben geht weiter, dieser alten Erkenntnis folgt der wuchtige, abwechslungsreiche Roman, der uns durch Schweden nach Berlin, nach Tunesien, New York bis in die süddeutsche Provinz zu einer kurdisch-tunesischen Hochzeit führt und ein zeitgenössisches Menschenpanorama aufbaut – die beschriebene Gesellschaft bewegt sich zwischen Uni-Dozenten, Autoren, Filmemachern, Verlagsgründern, Künstlern und Job-Hoppern; wir erleben einen Düsenjägerabsturz über Södermalm, eine überfüllte Edward-Said-Lesung an der Stockholmer Uni, die Skin-Gewalt der Neunziger und den Gangsta-Rap der Gegenwart, New York als Sehnsuchtsfluchtpunkt und die prägende Kraft von Familienmythen. Im weitesten Sinne geht es um die Zugehörigkeit zu irgendwem. Die Hauptfiguren sind Halbtunesier, Jonas mit schwedischer Mutter, bei den Schwestern bleibt das offen, wer der Vater ist, verrät das Buch nicht und Jonas und die drei Schwestern kennen sich streng genommen auch kaum, begegnen sich alle paar Jahre mal, für Jonas reicht das für dauerhafte Faszination. Offene Fremdenfeindlichkeit kommt selten im Buch vor, dennoch ist die Fremdheit allgegenwärtig, wenn etwa Ina sich bei ihren beiden besten Freundinnen latent unwohl fühlt: „Warum planen Saskia und du gemeinsame Familienurlaube, ohne zu fragen, ob wir auch mitkommen wollen? Manchmal frage ich mich, ob der größte Unterschied zwischen mir und euch darin besteht, dass eure Haut rosa ist und meine braun, und manchmal frage ich mich, ob ihr je verstehen werdet, wie es ist, als Mensch mit einer anderen Hautfarbe in diesem verfickten Scheißland aufzuwachsen, ihr werdet nie verstehen, was für ein Kampf es ist, sich anzupassen, das Richtige zu tun, diesen ständigen Balanceakt auszuhalten.

Einen strengen Handlungsfaden gibt es nicht. Die Erzählung ist ein gesellschaftliches Mosaik, das sich über vierzig Jahre entwickelt. Jonas Hassen Khemiri greift ins pralle Leben und erzählt mit großer Fabulierlust über diesen Menschenkosmos, der immer in Bewegung ist, stets neue Konstellationen, neues Glück, neues Unglück, Enttäuschungen und Erfolgserlebnisse gebiert und am Ende sogar einen Fluch bezwingt.

Ich hatte im Feuilleton eine schwärmerische Kritik gelesen und "Die Schwestern" dann zwischen dem 28. August und 3. September 2025 gelesen.