Buchcover: Jeffrey Eugenides – Middlesex (2002)

Schwere, weil komplexe Geschlechterfragen
im Rahmen eines unterhaltsamen Romans

Titel Middlesex
(Middlesex)
Autor Jeffrey Eugenides, USA 2002
aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld
Verlag Rowohlt
Ausgabe Hardcover, 734 Seiten
Genre Drama
Inhalt

In einem griechischen Bergdorf am Hang des kleinasiatischen Olymp fing alles an. Ein junger Mann und eine junge Frau, die Geschwister Eleutherios und Desdemona Stephanides, fliehen vor den Türken nach Smyrna und, als die Stadt brennt, weiter nach Amerika. Es ist das Jahr 1922. Auf dem Schiff, weit weg von allem, erschaffen sie sich als einander Unbekannte neu: Sie heiraten, verbringen ihre erste gemeinsame Nacht in einem Rettungsboot.

In Detroit, der Stadt der Autos und Hotdogs, lassen sie sich nieder. Der Sohn Milton wird geboren und, Jahrzehnte später, die Enkeltochter Calliope. Für Desdemona erfüllt sich, was sie als Folge ihres Geheimnisses längst befürchtet hat: Etwas Unfassliches geschieht. Das Mädchen Calliope entpuppt sich als Junge, heißt von nun an Cal, und eine neue Odyssee beginnt.

Dieser Cal Stephanides ist es, der uns von der mehr als siebzig Jahre umspannenden Lebens- und Liebesgeschichte seiner griechischen Einwandererfamilie erzählt. Er berichtet von Seidenraupen und Rumschmuggel und einer Klarinette, die auf der Haut eines Mädchens schmachtende Töne erzeugt. Er erzählt vom heiligen Christophorus, der Miltons Leben rettet, und von der Niederlage des Nebenbuhlers Father Mike. Vor allem aber erzählt er von dem, was sich die griechischen Götter nicht haben träumen lassen: von Vererbung und der Achterbahnfahrt eines Gens, von den Verworrenheiten des Geschlechts …

aus dem Klappentext

Was zu sagen wäre
Middlesex

Was oben im letzten Absatz zum Inhalt steht, ist Fluch und Segen für diesen Roman zugleich. Richtig: Das Buch erzählt über dies und das und jenes aus dem Leben einer griechischen Einwandererfamilie in den USA. Der Erzähler, Cal – oder zunächst Calliope – outet sich schnell als a., noch nicht geboren und b., als potenziellen Problemfall, weil: Cal ist Hermaphrodit. Ein Zwitterwesen. Er vertieft das aber nicht, sodass ich lange Zeit im Unklaren darüber bleibe, was denn das wohl bedeutet, während ich mit Anekdoten aus dem Einwandererleben der Großeltern 1922 und der Erfüllung des American Dream der Eltern bei Leselaune gehalten werde.

Eugenides kann wunderbar erzählen. Es fällt leicht, seiner Erzählung durch die Jahrzehnte der Familie Stephanides in Detroit zu folgen. Aber ich hatte das Buch ursprünglich nicht aufgeschlagen, weil mich die Biografie einer griechischen Familie in den USA, die keine historischen Fußstapfen setzt, interessiert. Vor meinem geistigen Auge entfaltet sich beim Lesen zunächst das Panorama der Stadt in Michigan mit Leuten aus verschiedenen Jahrzehnten, deren Werden in diesem Diorama ich zuschaue.

Interessant. Mal charmant. Aber nicht fesselnd.

Zunächst.

Freunde erklären mir gerne, wenn ihnen ein Buch nach 100 Seiten nicht gefiele, würden sie nicht mehr weiter lesen. Das klingt vernünftig: Warum Zeit mit Nicht Gefallen vergeuden? In vorliegenden Fall wär's schade gewesen. Der Text von Eugenides lässt sich frivol viel Zeit, um zum Kern zu kommen. Der Enkel griechischer Einwanderer, der in Detroit aufgewachsen ist, erzählt ausführlich die Lebensgeschichte eines griechischen Auswandererdpaars aus Mittelasien im Jahr 1922 – es ist ein Geschwisterpaar, das auf der Überfahrt einander heiratet, in Detroit seßhaft wird und langsam und Schritt für Schritt die amerikanische Erfolgsleiter erklimmt, mit Calliope als zweites Kind die ersehnte Tochter bekommt und es bis in den noblen Vorort Grosse Point und dort in den titelgebenden Middlesex Boulevard schafft, und dem Buch damit einen doppeldeutigen Titel zuschanzt; mit durchschnittlichem Straßen- oder Schulenglisch ausgestattet können wir den Buchtitel auch als Geschlechtlich zwischen allen Stühlen verstehen.

Früh erfahren wir also: Calliope, oder Cal, der heute in Berlin für den Auswärtigen Dienst der USA arbeitet, ist ein Hermaphrodit; als Mädchen aufgewachsen, als Mann erwachsen geworden. Mehr erfahren wir dazu dann erstmal nicht. Stattdessen erzählt Calliope die Geschichte der US-Karriere seiner griechischen Großeltern und Eltern, kommentiert das Geschehen auch schon aus der Fruchtblase seiner Mutter heraus und entwirft ein Kaleidoskop lebendiger und schräger Figuren, an deren Leben ich akademisch und historisch interessiert teilnehme. Das ändert sich, als endlich, 1960, dieses Zwitterwesen geboren wird und in der Folge in die Wirren der Pubertät gerät.

Die Familienbiografie wandelt sich in die Coming of Age-Geschichte eines Hermaphroditen, der sich in seine Mitschülerin verliebt – und nicht weiß, ob sie, Calliope, oder er, Cal, sich in sie verliebt haben; oder ein drittes Geschlecht. Das ist neu in meinem Lesekosmos! Die Geschichten junger Menschen auf ihrem Weg durch die Wirren der Pubertät, der Initiation hin zum Erwachsenwerden sind Legion. Aber die einsame Hilflosigkeit eines pubertierenden Teenagers ging mir selten so nah wie hier, was natürlich mit der unklaren Geschlechtersituation zu tun hat. Calliope geht es nicht anders, als allen anderen Teenagern – weiblich, männlich, sonstwie – auf der Welt: Sie/Er sucht seinen Platz in der Welt, seine Identität, die Orientierung, was umso reizvoller ist, da die wenigsten Leser qua Erfahrung allgemeingültige Lebenstipps werden geben können, im allgemeinen also vor den Buchseiten ähnlich hibbelige Ratlosigkeit herrschen dürfte, wie in den Buchseiten.

Würde ich einen Roman lesen, der unter dem Titel "Hermaphrodit" mir das Lebensschicksal eines ebensolchen präsentieren wollte? Eher nicht. Im Kino lasse ich mich schon mal zu Umwegen in meinem Geschmack hinreißen, Kino ist mein Herz-Medium. Bei Büchern würde ich eher auf die Regel der Freunde (s.o.) rekurrieren. Um mich trotzdem zum Lesen der 734 Seiten zu bewegen, geht Jeffrey Eugenides den Umweg über das beliebte Coming of Age – um mir dann, auf nicht vielen Seiten, sein Thema zu unterbreiten.

Warum ist ein Mann ein Mann? Warum ist eine Frau eine Frau? Was prägt die Geschlechter im Umgang mit der Gesellschaft? Gene? Oder die Erziehung, das Umfeld? Die Unterscheidung zwischen gender (gesellschaftlich) und sex (biologisch) wird für das Selbstverständnis von Cal wichtig. Cal wird als Mädchen erzogen und darin ist nichts Bösartiges. Der etwas eindimensionale Doktor der Familie hat den Hermaphroditen nach der Geburt halt nicht erkannt, hat die üblichen weiblichen Geschlechtsmerkmale entdeckt und also wurde Calliope als Mädchen in der Welt verankert. 15 Jahre ohne Zweifel daran (jedenfalls ohne Zweifel im familiären Umfeld daran) lang. Den sex wechselt Calliope in der Pubertät und wird zu Cal. Ändert aber nichts daran, dass seine Mutter und seine Großmutter in ihm weiterhin die Tochter sehen, während der fünf Jahre ältere Bruder, der zwischenzeitlich in die maoistische 68er FlowerPower-Bewegung versunken war, sich mit einem Bruder ganz gut arrangieren kann. Seine eigene Identität findet Cal erst, als er sich so akzeptiert, wie sie/er ist und dabei Anfang der 2000er Jahre in der Asiatin Julie einen Weg findet.

Ohne Gefahr zu laufen, in der Falle eines identitätspolitischen Diskurses stecken zu bleiben, bleibt Eugenides seinem Stil treu. Er erzählt süffig, abwechslungsreich, dramatisch vom schmerzhaften, bisweilen unappetitlichen Werdegang des unidentifizierten Teenagers; stellt selber fest, dass die Lehren darüber, was die Geschlechter prägt, in den 1970er Jahren andere waren – alle schwärmten damals von der Unisex-Gesellschaft, in der im Grunde genommen alle gleich gestrickt sind – als Anfang der 2000er Jahre (als dieses Buch in die Regale kam), als die Wissenschaft eine genetische Codierung für die Prägungen als Weiblich oder Männlich ganz betont unterstrich.

Als ich das Buch zuklappe, bin ich voller Bilder, Ahnungen und Schicksale von Charakteren, die im Leseleben meinen Weg gekreuzt haben, und anderer, die ich vermisse. Während mir die Hauptfigur, Calliope, deren biologische Sonderheit ich immer noch schwer begreifen kann, nicht mehr aus dem Kopf geht. „Wir sind das, was als nächstes kommt (in der Evolution)“, hat seine hermaphroditische Freundin Zora aus dem Stripclub gesagt. „Das Androgenresistenz-Syndrom schaffe die perfekte Frau, sagte Zora. Etliche Topmodels hätten es. 'Wie viele Weiber sind schon eins achtzig groß, knochig und haben dicke Titten? Nicht viele. Für eine wie mich ist das normal.'

"Middlesex" kam 2002 in die deutschen Bücherregale. Ich habe es viel später im Wohnzimmer meines Vaters gefunden und schließlich vom 13. bis 18. Juli 2025 gelesen, als die Debatten um Identitäten, richtige oder falsche, geschlechtliche oder eingebildete, ihr rein literarisches Habitat verlassen und im Alltäglichen der Gesellschaft angekommen sind.