Buchcover: David Gilbert – Was aus uns wird

Bissige Szenen einer dysfunktionalen Familie
der die Geschichte abhanden gekommen ist

Titel Was aus uns wird
(& Sons)
Autor David Gilbert, USA 2013
aus dem Amerikanischen von Stefanie Schäfer
Verlag Eichborn
Ausgabe Gebunden, 638 Seiten
Genre Roman
Inhalt

„Ampersand“ heißt der Romanklassiker, in einem Atemzug genannt mit Salingers „Fänger im Roggen“. Sein Autor, A.N. Dyer, hat diesen Ruhm aber längst überlebt, er ist alt geworden, leidet unter allerlei Gebrechen, er weiß, dass er seine Kreativität verloren hat.

Als sein bester Freund stirbt, lädt er seine drei Söhne zu sich ein, um ihnen ein Geheimnis anzuvertrauen – eine Enthüllung, die nicht alle überleben werden …

(aus dem Klappentext)

Was zu sagen wäre
Was aus uns wird

Im Klappentext wird behauptet, David Gilbert entwerfe „ein hinreißendes Panorama der edlen und eitlen Literaturwelt New Yorks, er erzählt von dem hohen Preis künstlerischer Kreativität und davon, wie sich Väter und Söhne die Luft zum Atmen nehmen“.

Auf den ersten 170 Seiten erzählt er tatsächlich über Väter und Söhne, Schriftsteller, Kiffer und Durchgefallene, die allesamt ihre (geliebten) Frauen betrügen und verlassen werden. Das heißt, natürlich erzählt nicht Gilbert. Gilbert lässt erzählen von Philip Topping, einem engen Freund der Familie Dyer, deren Name so morbide ist wie die Familie wirkt.

A. N. Dyer ist die leere Mitte dieser Familienaufstellung. Der Roman „Ampersand“ (das ist der englische Begriff für das Kaufmanns-„Und“ -&- aus dem Originaltitel des vorliegenden Romans) sein Triumph und Untergang – in der Kunst immer die zwei Seiten derselben Medaille. Er ist alt geworden, dieser Weltliterat, den alle dauernd und überall feiern – wenn er denn mal das Haus verlässt – und der aber seit seinem „Ampersand“ kaum einen klugen Satz mehr verfasst hat. Als wir ihn kennenlernen, ist er dabei, das Manuskript seines Erfolgsromans neu zu schreiben, damit er sein Oevre besser an den musealen Kurator verscherbeln kann – vom Triumph nur der traurige Rest Leben.

„Was aus uns wird“ beginnt mit einer Beerdigung. und endet mit einer Beederigung – da erleben wir so eine Art Jonathan-Franzen-2.0-Familienroman: Familie gleich Tod und Trauer. Ein Freund des alten Dyer ist gestorben; im Laufe der 600 Seiten wird sich herausstellen, dass dieser Freund Vorbild war für Figur des von den Mitschülern gequälten Jungen in „Ampersand“, damals heftig verliebt in den jungen A.N. Dyer. Der literarische Weltruhm Dyers gründet auf menschlichem Versagen.

Und es ist der Sohn des Toten, der als Ich-Erzähler fungiert. dieser Philip Topping ist der olympische Erzähler, selten Augen- oder wenigstens Ohrenzeuge der Ereignisse; die meisten Szenen kann er nur erfunden haben. Lebendig reiht Philip Anekdote an Anekdote, schweift gerne ab, verlegt sich von der äußeren Beobachtung in die innere Befindlichkeit seiner jeweiligen Hauptfigur.

Das klingt dann zum Beispiel in einer Szene, als es um den Nachlass des gefeierten Autoren Andrew Dyer an ein Museum geht und die Verhandlungen in vollem Gange sind, so: „Wenn sie den Gewinn maximieren wollen, schlage ich vor, Sie reißen das Archiv auseinander und verkaufen stückweise. Wenn Ihnen jedoch Respekt, sensibler Umgang, Geo …"
Während sich dieses höfliche Tauziehen fortsetzte, driftete der Andrew in Andrew auf einem neuen Gedankengang davon, der mit einem Blick nach oben begann. Die Betrachtung der beeindruckenden Stuckdecke führte in freier Assoziation zu Kuchenglasur, Hochzeiten, zu Isabel und ihrem eleganz geschwungenen Hals – spektakulär in Rollkragenpullovern –, ihren schmalen, scharfen Gesichtszügen, ihrer großzügigen Zunge, ihrem Körper, der sich in seiner Fantasie wieder und wieder vor ihm öffnete und in einer -Art Akkumulation sexueller Akte weiter-weiter-weiter zurückneigte, die in wenigen kurzen Segmenten auch ihre Hochzeitsreise einschloss, Isabel nackt und lustvoll, wobei ihre Lust für alle Zeit das Schönste daran war und jeden anderen Reiz übertrumpfte, als sei er wieder ein Teenager, bei dem jeder intime Gedanke unmittelbar eine reaktion auslöste, Isabel, auf der Seite liegend, bereit für ihn … Solche Gedanken suchten ihn umso intensiver heim, je größer sein Bedürfnis nach einsamkeit wurde, und sie, nein: er,Berührungen kaum noch zulassen konnte, ohne sich widerlich vorzukommen, as begtrachte er sich aus der Ferne, stoßend und grunzend.
…“

Jene Isabel ist des gefeierten Autoren Frau, die ihn vor 17 Jahren verlassen hat, nachdem es sich Andrew Dyer im Schoße einer anderen Frau gemütlich gemacht hatte, was nicht folgenlos blieb. Ich habe zuletzt zwei Romane von Actionthriller-Autor Tom Clancy gelesen und muss mich offenbar erst ein wenig in David Gilberts Sprache hineinwinden. Denn da sind ja auch solche wunderbar treffend formulierte Absätze: „Alice war seine Freundin, oder so ähnlich, eine Frau, mit der er sich gelegentlich traf eine Schauspielerin, die man vielleicht aus der Xerox-Reklame („So echt, es ist fast … echt?“) oder einer kurzlebigen Apple-iMac Kampagne her kannte (sie hatte die Eva gespielt), aber die meisten kannten sie als Kellnerin im Orso an der West 46th Street. alice arbeitete dort seit achtzehn Jahren und nicht nur die stammgäste kannten sie. Ihre Anwesenheit dort erzeugte eine art Kuleshow-Effekt, ob ihre Präsenz nun ein Barometer der Beständigkeit in New York verkörperte – Alice im Orso – oder eine unbequeme Erinnerung an verblasste Träume – Alice im Orso – oder die Gerade der Timelines anderer Leute – Alice im Orso – oder das Verschwinden einst schöner Jugend – Alice im Orso. Erwähnt man Alice im Orso bestimmten Leuten gegenüber, lächeln sie erst – sie ist die Beste! – grinsen dann – sie arbeitet schon ewig dort – und werden dann einfach still. Wir alle kennen Alice.

A.N. Dyer hat drei Söhne, deren Verhältnis zu ihrem berühmten Vater geschildert wird. Der älteste ist Drogenberater und im stillen Drehbuchautor – erfolglos, der aber plötzlich Aufwind spürt, Hollywood is calling. Dann wollen die Kreativ-Vampire aber doch nur an die Rechte am Werk seines Vaters herankommen.

Der zweite Sohn dreht Dokumentarfilme über Mord, Totschlag, Sterben, Krieg, Vergewaltigung – zuletzt begleitet er das Sterben einer toderkrankten Jugendliebe, filmt jeden Tag um 12:01 Uhr ihre Aussage, es gehe ihr gut und montiert schließlich eine Kamera in ihrem Sarg, um den Verfallsprozess noch über den Tod hinaus zu dokumentieren. Der Film gelangt ins Internet und wird dort millionenfach geklickt. Und dann gibt es noch einen dritten Sohn, ein Nachkömmling, grade mal 17 Jahre alt, der an nichts als an Sex denken kann.

Es steckt unglaubich viel drin auf diesen 630 Seiten. Aber es wird nichts Ganzes draus. Die ganze Zeit warte ich auf die große Conclusio, die aber nie kommt; Gilbert versucht es – literarisch geschickt – mit einer Klammer, die A.N. Dyer seinen kleinen Söhnen eine Geschichte vom Mann im Mond erzählen lässt, der trotzig und einsam da oben zurückblieb, nachdem seine Brüder und Schwestern nach der großen Katastrophe auf die Erde umgesiedelt waren. Mit dieser zweiseitigen Geschichte beginnt das Buch; mit dieser Geschichte endet das Buch und dazwischen wurde klar, dass Dyer selbst jener einsam zurückgebliebene Eremit ist. Schön, okay, eine erzählerische Klammer, die viele kleine und größere Szenen-Pretiosen beherbergt. Unter anderem eine große Party anlässlich des Erscheinens eines Buches eines neuen Jungstars der Szene in einem Museum. Da schimmert Tom Wolfes „Fegefeuer der Eitelkeiten“ durch in der Boshaftigkeit der geschilderten Details. Große Momente schildert Gilbert; aber immer, wenn ich das Buch abends aus der Hand lege, ist es am nächsten Morgen schon egal. Kein gutes Zeichen. Ein Roman mit viel Sinn für den zenischen Effekt, dem ein Überbau fehlt

Ich habe das Buch zwischen dem 23. Oktober und dem 16. Dezember 2014 gelesen.