Buchcover: Dörte Hansen – Altes Land
Heimatroman, Satire, Familiendrama
und eine wunderbare Erzählung
Titel Altes Land
Autor Dörte Hansen, Deutschland 2015
Verlag Knaus
Ausgabe E-Book, 288 Seiten
Genre Roman
Website randomhouse.de
Inhalt

Das „Polackenkind“ ist die fünfjährige Vera auf dem Hof im Alten Land, wohin sie 1945 aus Ostpreußen mit ihrer Mutter geflohen ist. Kriegerwitwe Ida Eckhoff nimmt diese die verlausten „Polacken“ nur ungern auf, eine kalte Kammer für die beiden muss genügen.

Schon damals war das alte Reetdachhaus für Vera nur Zuflucht, aber kein Zuhause. Das änderte sich auch nicht, als ihre Mutter den aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Hoferben Karl heiratet. Stark traumatisiert und von bösen Träumen geplagt kann er einer Frau außer einem Dach über dem Kopf nichts bieten. Als ihre Mutter eines Tages mit einem Anderen abhaut und Ida Eckhoff ihren letzten Gang auf den Speicher des Hauses antritt, ist Vera mit Karl allein auf dem alten Hof.

Bis sechzig Jahre später plötzlich ihre Nichte Anne vor der Tür steht. Sie ist mit ihrem kleinen Sohn aus Hamburg-Ottensen geflüchtet, wo ehrgeizige Vollwert-Eltern ihre Kinder wie Preispokale durch die Straßen tragen – und wo Annes Mann eine Andere liebt. Vera und Anne sind einander fremd und haben doch viel mehr gemeinsam, als sie ahnen …

Was zu sagen wäre
Altes LandDas Alte Land nennt man die Gegend südlich der Elbe in Hamburg, ein Teil der Elbmarschen. Die Menschen hier leben vom Obstanbau, reden nicht viel und sind, jedenfalls in Dörte Hansens Roman, der diese Gegend im Titel trägt, alle auf der Flucht. Auf der Flucht vor den Schrecken des Krieges, vor der leistungsorientierten Großstadt, vor der kaputten Ehe, in ein wahreres, geerdeteres Leben. Die Frauen fliehen. Die Männer bleiben wo sie sind und machen einfach weiter, wenn die Frauen weg sind.

Dörte Hansens Romandebut ist ein wundervoller Schmöker, manchmal Satire, manchmal Drama, immer erzählt mit lakonischem Blick für die Kleinigkeiten: „Christoph saß mit Carola immer in der Küche, wenn sie ein neues Buchprojekt besprachen, die beste Lektorin, die er je gehabt hatte, sie saßen auch heute am Küchentisch bei Weißwein und Tee, alles wie gehabt, sie hatten heute nur nichts an. Anne sah zuerst die nackten Füße mit den rot lackierten Nägeln.“ Die Beziehung ist kaputt, der nun Ex-Freund zieht weiter und Anne packt sich das schlafende Kind auf den Arm, bevor sie geht, „Vor dem Küchenfenster ratterte Leons Windrad in der harten Blumenerde.“ Glück im Unglück: Anne hat sowieso nie in die Welt von Hamburg-Ottensen gepasst.

Aus dieser Welt der perfekten Mütter am Spielplatz, die, „wie gutmütige Familienhunde, die Schnuller und Trinkflaschen apportierten, die ihre Kleinkinder aus den Buggys warfen“ kommt sie dann in eine Welt, in der man über Kummer und Leid nicht spricht – sondern wissend schweigt, was Dörte Hansen in eine weitere dieser vielen wunderschönen Wortkaskaden packt: „Hertha half Anne aus dem Mantel, schob sie an den Küchentisch, dann setzte sie sich auf die Eckbank und zog sie auf den Schoß, holte ein Taschentuch aus ihrem Ärmel. Viel war nicht zu verstehen von dem, was Anne von sich gab. Die Welt ging unter, so viel stand mal fest.
Sie ging auch meistens wieder auf. Hertha Drewe kannte sich einigermaßen aus mit Weltuntergängen. Was man fragte, was man sagte, war egal. Bisschen schaukeln. »Och, meine Lütte.«
Sie hatte ihn nur zwei-, dreimal gesehen, Annes Heiopei im weißen Hemd, den Bücherschreiber.
Einmal hätte schon gereicht, das sah man gleich, dass das nichts werden konnte. So einer blieb ja nicht, Kind hin, Kind her, der war nicht treu und brav, das war dem zu beschränkt.
Hertha sah einem Mann das an, sofort. Sie hatte aber nichts gesagt, es war ja zwecklos. Es wollte immer keiner hören.
Sie hatte auch von Anfang an gewusst, dass Urte nichts für (
ihren Sohn) Carsten war. Ich denke, ich denke von morgens bis abends, und grundsätzlich das letzte Wort. Und ein Gehühner immer mit dem Essen: Fleisch wollte sie nicht, und Milch durfte sie nicht, und Kaffee mochte sie nicht, nur immer Ingwertee, den brachte sie sich von zu Hause mit, wenn sie mal kam. Als wollte Hertha sie vergiften. Und wenn man ehrlich war: Fürs Auge war sie auch nichts, das hatte Karl-Heinz sogar mal zugegeben, und er hielt sich sonst sehr zurück: »Nicht viel Schmuckes an ihr.« Flusige, muffige Wollsachen immer, die Röcke fast bis zu den Hacken, nie mal was halbwegs Flottes.
So langsam schien Carsten das ja nun auch zu merken, man hörte gar nichts mehr von Urte. Hertha fragte nicht. Nichts, gar nichts fragte sie!
Aber sie konnten das vergessen mit den Enkelkindern.“

Manche Nebenfigur – mit satirischem Strich gezeichnet – erfüllt, was die Kritik Klischee schimpft. Klischee aber ist bisweilen nur eine Umschreibung für in wenige Wörter gebündelte Charakterisierung einer Funktionsfigur. Das sind die Ottensener Mütter, die „ihre Kinder wie Preispokale durch die Straßen tragen“, deren Funktion es ist, Annes Entfremdung zu verdeutlichen – und das, ganz nebenbei, sehr unterhaltsam für jede/n Leser/in, der/die schon mal eine Mutter mit Buggy raumgreifend ins Café rauschend erlebt hat. Klischees helfen dem Leser manchmal, sich schneller zurechtzufinden, ohne, dass die Autorin eine redundante Nebenhandlung erfinden muss.

Ähnlich wie mit dem Klischee geht Hansen beim Thema Landflucht vor. Sie bedient sich der grassierenden Romantik zum Land, die sich in Hochglanzmagazinen wie „Landlust“, „Landliebe“ oder „Landleben“ manifestiert und macht sich darüber lustig. Diese Zeitschriften verbreiten das diffuse Gefühl, dass da draußen auf dem Land, jenseits der zynischen Städte, das Leben schöner, urwüchsiger, ehrlicher sei. Hansen personifiziert – und karikiert – dieses Gefühl in der Figur eines freigesetzten Journalisten, der sich von seiner Abfindung eine Kate gekauft hat, nur noch Liegerad fährt, mit dem er die großen Geschichten hinter den kleinen Leuten sucht und davon träumt, ein Magazin, „Land&Lecker“, zu gründen „für die, die genug hatten, downshifters wie ihn, die kapiert hatten, dass weniger mehr war, die den ganzen Ballast loswerden wollten“. Dieser Mittfünfziger personifiziert die Sehnsucht der globalisierten Gesellschaft nach Land und Liebe, ohne sie verstanden zu haben.

Und gleichzeitig macht Hansen genau dasselbe, was die Landlust-Illustrierten machen: Sie sagt Land gut – Stadt schlecht. So hysterisch die Städter, so bodenständig die Charakterköppe aus der Marsch, wo Kinder und Männer noch im Dreck wühlen können und Frauen im gestreckten Galopp über den Deich reiten: Da ist Dirk zum Felde, der wortkarge Bauer, der sich entscheiden muss, ob er weiter tradioneller Landwirt bleiben oder seinen Hof modernisieren, also zur Ferienpension mit eingelegtem Quittengelee umgestalten will. Da ist Veras Nachbar, Heinrich Lührs, dessen Frau ihm drei Söhne schenkte, von denen keiner seinen Hof übernehmen will, und die dann viel zu früh starb und ihn aus der Kirche vertrieb – von wegen Dein Wille geschehe; ein Mann mit versteinertem Gesicht, aber so still wie selbstverständlich zur Stelle, wenn Vera Hilfe benötigt.

Da ist Vera selbst, die eigentliche Hauptfigur, über die der Roman den Bogen vom Zweiten Weltkrieg bis in unsere Tage schlägt. Jahrgang 1940, Kriegskind, mit der Mutter aus Ostpreußen geflüchtet, hier gestrandet. Ihre Kindheit hat sie hart gemacht, spätestens, als die eigene Mutter, kaum ist das gröbste Elend überstanden, sich mit einem neuen Mann davon macht und Vera mit dem alten, mit Kriegstraumata kämpfenden Hoferben Karl alleine lässt. Vera macht ein Einser-Abitur, wird Zahnärztin, hält stolze Trakehner auf der Wiese, kennt Kinder nur „angespannt vor Angst, die Augen groß, die Münder aufgerissen, auf ihrem Zahnarztstuhl“. An ihren Zaun hat sie ein Schild mit Totenkopf auf gelbem Grund genagelt, das ungebetene Besucher abhalten soll, die sowieso nicht kommen. Dennoch wirkt Vera in keinem Moment unsympathisch, im Gegenteil. Wenn Dörte Hansen sie aus Sicht der Dorfbewohner als verschroben, seltsam, spinnert beschreibt, fühlt sich der Leser ganz an ihrer Seite – er hat erlebt, was diese Frau durchgemacht hat, versteht, warum sie ist wie sie ist. Nie larmoyant, immer lakonisch.

Das Thema Flucht zieht sich durch das ganze Buch, wo sie aber enden soll, bleibt in den meisten Biografien des Buches vage, und daran dekliniert Hansen sehr gelungen den Heimatbegriff durch, der sich jeder Generation – Stichwort Globalisierung – anders stellt, Heinrich Lührs anders als seinen drei Söhnen, von denen einer als Sushi-Koch nach Japan ging, dem „Land&Lecker“-Journalisten erst so dann so, ausgerechnet Vera, die so viele Jahrzehnte verbissen auf ihrem Hof geblieben ist, bleibt eine gefühlte Heimat lange verwehrt – sie ist in diesem verfallenen Bauernhaus, aber nie angekommen. Über der Eingangstür steht: „Dit Huus is mien und doch nich mien, de no mi kummt, nennt’t ook noch sien“. Dieses Haus, das emotionale Zentrum dieser wunderbar erzählten Geschichte, bietet niemandem Heimat, höchstens eine Zeit lang die Möglichkeit, heimisch zu werden.

Zu dieser verhärmten Frau in dieses zugige nach und nach mürbe gewordene Haus mit dem fauligen Reetdach kommt nun ausgerechnet die leck geschlagene Anne aus der Großstadt, auch eine Art Flüchtling. Hier findet diese zwischen Heimatroman und Satire balancierenden Erzählung dann ihr Zentrum: Zwei, die am Ende sind, vom Schicksal zusammengesteckt, damit sie wieder zu sich kommen. Wunderbar. Manchmal zum Heulen schön.

Ich habe „Altes Land“ zwischen dem 3. und 5. November 2017 gelesen.