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Plakatmotiv: Winterschläfer (1997)

Ein Rätsel mit Farbleitsystem
für die handelnden Personen

Titel Winterschläfer
Drehbuch Tom Tykwer & Anne-Françoise Pyszora
frei nach dem Roman "Expense of Spirit" von Anne-Françoise Pyszora
Regie Tom Tykwer, Deutschland 1997
Darsteller

Floriane Daniel, Heino Ferch, Ulrich Matthes, Marie-Lou Sellem, Josef Bierbichler, Laura Tonke, Sebastian Schipper, Agathe Taffertshofer, Sophia Dirscherl, Robert Meyer, Werner Schnitzer, Saskia Vetter, Simon Donatz, Jakob Donatz, Harry Täschner, Walter Anichhofer, Martin Leutgeb, Melanie Palmberger, Michaela Prahauser u.a.

Genre Drama, Romantik
Filmlänge 122 Minuten
Deutschlandstart
30 Oktober 1997
Inhalt

In einem bayerischen Bergdorf lebt die Krankenschwester Laura, die so gerne eine gefeierte Schauspielerin wäre, mit Rebecca, einer Übersetzerin, zusammen in einer ererbten Villa. Rebecca liebt den eitlen Marco, der sein Geld als Skilehrer verdient. Nummer vier im Bunde der um die 30-Jährigen in der bayerischen Idylle ist der Filmvorführer René, dem bei einem Unfall sein Kurzzeitgedächtnis fast völlig abhanden kam. Mit ihm bandelt Laura an.

Und dann ist da noch der Bauer Theo. Als er sein krankes Pferd zum Doktor bringen will, fährt seine kleine Tochter heimlich im Pferdehänger mit. Es kommt zu einem folgenschweren Unfall, der alle Beteiligten miteinander verstrickt. Seine Tochter fällt ins Koma und wird sterben. Von Rache getrieben, macht sich Theo auf die Suche nach dem Schuldigen …

Was zu sagen wäre

Man möchte meinen, Tom Tykwer will mit aller Macht die Kunst des deutschen Autorenfilms wieder aufleben lassen – stumme Menschen, stille Bilder, lange Zeit passiert nichts un die Festivalleiter und Feuilletonisten sind begeistert. So war es in den 70er Jahren, als Regisseure wie Hark Bohm, Peter Lilienthal, Laurens Straub, Wim Wenders oder Hans W. Geissendörfer ihre Filme drehten.

In "Winterschläfer" holt uns Tykwer (Die tödliche Maria – 1993) in eine abgelegene Berggegend. Ein Unfall passiert, bei dem ein zehnjähriges Mädchen schwer verletzt wird und später stirbt. Der Unfallfahrer schwört, es sei ihm ein Auto entgegengekommen. Die Polizei glaubt ihm nicht, sagt, er sei halt im starken Schnee von der Straße abgekommen, sowas passiere halt mal. Die drei Polizisten von der zuständigen Station suchen den Unfallort nicht einmal ab. Dabei liegt der andere Wagen gar nicht weit entfernt nur halb verdeckt unter einer Schneewehe. Sie gehen auch einer Diebstahlsmeldung nicht nach, nach der ein Auto gestohlen werden sei. Es ist dasselbe auto, das unter der Schneewehe liegt.

In der kleinen Bergregion im Berchtesgadener Land hängt alles mit allem zusammen und man ist angesichts der groben Unlust der Polizei geneigt, von wilden Bergvölkern zu sprechen. Aber der Regisseur will offensichtlich ganz etwas anderes erzählen. Er interpretiert einen Roman von Anne-Françoise Pyszora, der im Sommer am Meer spielt und in dem es keinen Unfall mit toter Tochter gibt. Es gibt in diesem Buch aber zwei Paare, die unterschiedlich miteinander umgehen und kommunizieren. Die will Tykwer näher untersuchen und offenbar fühlt er sich dafür im Schnee besser.

Auftritt Rebecca, gespielt von der blonden, blauäugigen Floriane Daniel. Rebecca trägt den ganzen Film über nur rote Kleidung und wohnt in einem Zimmer mit indischen Tüchern, vielen Kerzen, das auch rot schimmert. Von der roten Kleidung trägt sie selten viel. Möchte man dem Regisseur nicht eine gewisse Geilheit unterstellen, mit der seine Kamera die Frau immer wieder auszieht, dann signalisiert uns die leuchtende Röte an Rebeccas Habitus: Sex! Wie ich so etwas sagen kann? Es ist beinahe ihre einzige Tätigkeit im Film. In einer kleinen Szene sieht man sie, wie sie einen Groschenroman übersetzt. In einer weiteren verkauft sie Skipässe an der Talstation und will keinen Job als viel besser bezahlte Skilehrerin. Meistens ist sie leicht bekleidet zuhause und wartet auf Marco, den der schmucke Heino Ferch spielt, der in diesem Jahr auch in Paul Vilsmaiers Comedian Harmonists zu sehen ist. Plakatmotiv: Winterschläfer (1997) Marco trägt ausschließlich blaue Sachen und ist der Besitzer des verschütteten Wagens, den er als gestohlen gemeldet hat. Außerdem ist er ein selbstsüchtiges Arschloch, egozentrisch, untreu, aufdringlich. Optisch passen Rebecca und Marco gut zusammen, inhaltlich nicht so. Sie streiten dauernd und schlafen dann miteinander und Tykwers Kamera ist immer nah dran.

Es findet sich ein zweites Paar. Die Krankenschwester Laura pflegt im Krankenhaus das zehnjährige Mädchen, das seit dem Autounfall im Koma liegt. Abends versucht sie sich, hoffnungslos überfordert, als Schauspielerin auf einer Laienbühne am Stück "Endstation Sehnsucht". Laura gehört der kleine Hof, auf dem sie und Rebecca und seit kurzem auch Marco leben. Sie trägt den ganzen Film über keine andere Farbe als grün – grün als Komplementär zu rot, also als Gegenstück zu Rebecca. Laura ist feinfühliger als Rebecca und verliebt sich in René, der als Filmvorführer im örtlichen Kino arbeitet und mit seinem Fotoapparat die seltsamsten Fotos macht. Er trägt schwarze Klamotten. René ist der Unfallfahrer, der zumindest eine Mitschuld trägt an dem Mädchen im Koma. Das weiß er aber nicht, denn René hat seit einem Unfall beim Militär Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis, weshalb er immer alles fotografiert und die Fotos in einem Album sortiert, wo er sie mit Notizen versieht.

Wir Zuschauer erfahren das mit dem defekten Kurzzeitgedächtnis erst weit in der zweiten Hälfte des Films, in dem wir zwei Paaren bei Streiten, beziehungsweise Werden zuschauen, und Theo, dem Unfallfahrer und Vater des komatösen Mädchen, der mit seiner Suche nach dem anderen Unfallfahrer überall gegen Wände rennt – nicht aufbrausend, sondern leise, weil ihm eh keiner glaubt und sich alle schon über ihn das Maul zerreißen. Marco wird mit seinen Affären und seiner Selbstsucht immer unsympathischer und René, der glasklare Unfallflucht begangen hat und jetzt so tut, als sei nichts passiert, wird immer sympathischer – vor allem, nachdem wir verstanden haben, was das mit den seltsamen Fotos auf sich hat und dass er einen Gehirnschaden hat. Aber dann passiert wieder wenig.

Tom Tykwers Farbdramaturgie ist einleuchtend und so raffiniert wie die grobe Faust im Auge. Warum wir uns das Verhalten der beiden unterschiedlichen Paare ansehen sollen, bleibt unklar; mal abgesehen davon, dass die Schauspieler gut sind und dass Kameramann Frank Griebe zum Niederknien schöne Bilder der geheimnisvollen, düsteren, strahlend schönen Bergwelt mit sehr ruhigen Kameraeinstellungen macht. Aber der Film dauert zwei Stunden, die er abseits seiner schönen Bilder vor allem dazu benötigt, dass Sühne und Schuld sich am Ende verkehrt haben, dass das egozentrische Arschloch die Schuld des eigentlich schuldigen Kranken zahlt.

Ein Liebesthriller“ hat Tom Tykwer noch auf sein Filmplakat geschrieben. Nein, "Winterschläfer" ist kein Thriller.

Wertung: 4 von 11 D-Mark
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