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Plakatmotiv: Nebenan (2021)

Wunderbare Schauspieler und geschliffene
Dialoge in einem packenden Kammerspiel

Titel Nebenan
Drehbuch Daniel Kehlmann
Regie Daniel Brühl, Deutschland 1994
Darsteller

Daniel Brühl, Peter Kurth, Rike Eckermann, Aenne Schwarz, Gode Benedix, Vicky Krieps, Justine Hirschfeld, Ole Hermann, Luisa-Céline Gaffron, Johanna Polley, Nils Dörgeloh, Mex Schlüpfer, Stefan Scheumann, Marine Dubois, Nils Brunkhorst, Arne Duppler u.a.

Genre Drama
Filmlänge 92 Minuten
Deutschlandstart
15. Juli 2021
Inhalt

Berlin-Prenzlauer Berg. Am Ende dieses Sommertags wird nichts mehr so sein wie zuvor. Nur weiß Daniel davon noch nichts. Er ist der Protagonist eines tragikomischen Szenarios und als solcher ebenso ahnungslos wie erfolgsverwöhnt.

Die Loft-Wohnung ist schick, seine Ehefrau auch, die Kinder hat die Nanny im Griff. Alles flott, alles bilingual, alles bereit für den Jet-Trip zum Casting, wo für den deutsch-spanischen Schauspielstar eine Rolle in einem Superheldenfilm in Aussicht steht.

Als er schnell noch in der Eckkneipe einkehrt, sitzt dort Bruno. Und der hat, wie von nun an im Minutentakt durchsickert, lange auf diesen Moment gewartet. Ein Verlierer der Wiedervereinigung, Gentrifizierungsopfer in Berlin-Ex-Ost, ein Ewigübersehener nimmt Rache. Daniel ist seine Zielscheibe …

Was zu sagen wäre

Hier geht es um Gentrifizierung in Berlin. Also um das alte Berlin, das vom neuen Berlin aus seinen Wohnungen und Kiezen verdrängt wird; von jungen, zu Geld gekommenen Influencern, Filmleuten und „Schwaben“, wie sie pauschal genannt werden. Man merkt das schnell mit der Gentrifizierung, kaum dass die Kamera die moderne Maisonettewohnung von Schauspieler Daniel mit den bodentiefen Glasfenstern und dem Sichtbeton, der Chrom glänzenden Kaffeemaschine, der Millimeter genau angerichteten Frühstücksbowl und dem privaten Außenaufzug verlässt, der Daniel mitten auf den Kiez wirft zwischen unsanierten Altbau, drängelnde Berliner, hupende Autofahrer und die Eckkneipe, die "Zur Brust" heißt – ranzige Tische, Dartautomat, undefinierbare Zimmerpflanzen; man kann die Kneipe im Kinosessel förmlich riechen. An der Bar sitzt ein älterer Typ mit beigebrauner Jacke, Marke Rentner, fettigem Haar, Marke unfrisiert, leerem Blick und einem Bier vor sich. Bruno.

Bruno passt zu der Kneipe mit der Schultheiss-Leuchtreklame im Fenster. Daniel nicht. Der passt zu der Sichtbetonwohnung mit Außenaufzug und blitzblanker Dusche, unter der er heute Morgen, Daniel ist Schauspieler auf dem Sprung zu einem Casting nach London, die Rolle des "Laser Angel" geprobt hat – "Du bist aus der Dunkelheit gekrochen." – für die er dort vorsprechen soll. Ein Superheldenfilm, mehr weiß er nicht. Seit er die Wohnung verlassen hat, die Ehefrau noch im Bett, die beiden Kinder beim spanischen Kindermädchen, hängt er, EarPod im Ohr, ununterbrochen am Telefon, mal deutsch mal englisch. Er wüsste gerne mehr über die Rolle des "Laser Angel". Aber das Drehbuch ist super geheim, die amerikanische Produktion macht ein großes Ding draus. Interessanterweise weiß auch Bruno an der Theke von dem Casting, von "Laser Angel". Er weiß überhaupt erstaunlich viel über Daniels Leben. Bald liegen die beiden im Clinch.

Daniel Brühl präsentiert seine erste Regiearbeit. Er macht es dem Zuschauer nicht leicht. Er inszeniert einen Film über einen erfolgreichen Schauspieler, der Daniel heißt, dem eine lukrative Rolle in einem Superheldenfilm winkt und der in lauter Filmen und Serien gespielt hat, die deutlich an Filme und Serien erinnern, in denen der echte Daniel Brühl gespielt hat. Diesen Typen zu mögen, fällt schwer. Er ist arrogant, ein Wessi-Schnösel im Osten wie er im Buche steht. Der aber unter keinen Umständen arrogant rüberkommen will. Und als Wessi-Schnösel schon gar nicht. Er trägt so eine aufgesetzte Dauerfreundlichkeit vor sich her, die von oben herab kommt. Jemand will ein Foto mit ihm, dem Star machen? Na klar, und ein handsigniertes Filmposter gibt's noch oben drauf, ne? Und tschau! Er wirft mit Trinkgeld in Form von 20-Euro-Scheinen um sich, als würde er sie drucken. Bloß nicht geizig oder sonst irgendwie negativ rüberkommen, also lächeln, 20 Euro und tschau! Mit dem bodenständigen Image, das wir von Daniel Brühl in Interviews und Porträts transportiert bekommen, hat dieser Daniel nichts gemein. Dorthin, auf den Boden, wo er uns wenn schon nicht sympathisch wird, uns aber wenigstens leid tut, holt ihn erst Bruno. Das ist eine Leistung, eine finstere Version von sich selbst zu inszenieren, noch dazu als bekannter und beliebter Promi, und dabei souverän die Fäden von Regie und eigenem Spiel in der Hand zu behalten.

Als Regiedebüt hat sich Brühl gleich eine schwere Aufgabe gestellt: Ein Zwei-Personenstück, das zum großen Teil in einer Kneipe spielt. Sein Glück, dass Peter Kurth (In den Gängen – 2018; Good bye, Lenin – 2003) zugesagt hat, den Bruno zu spielen. Bei Kurth weiß der Zuschauer nie so genau, wo es hingeht, was diesem Kammerspiel zugute kommt. Bruno kennt intimste Details aus Daniels Leben und nimmt es in der ranzigen Kneipe auseinander. Tatsächlich ist lange unklar, was Bruno eigentlich reitet, Daniel mit dessen Lebenslügen zu konfrontieren, die Bruno alle kennt, weil er direkt gegenüber wohnt – "Nebenan", wie der Filmtitel verheißt – und alles mitkriegt, was in der Sichtbeton-Maisonettewohnung vor sich geht, und weil Bruno den passenden Alleswisser-Job hat, der hier nichts zur Sache tut, als Erklärung im Film aber völlig ausreicht. Kurth spielt glaubhaft den Ost-Berliner von unten, den von den Besserwessis Vertriebenen, der sich seine Würde bewahrt und kontrolliert seine Rache durchzieht. In Bruno brodelt Wut über die Gentrifizierung seines Viertels. Und Brühl hält als Schnösel, dessen Fassade zunehmend bröckelt, dessen Leben in dieser ranzigen Kneipe in seine Bestandteile zerfällt, gut gegen die Wucht Peter Kurths.

Die Idee zum Stück stammt von Brühl selbst (The King's Man – 2021; Captain America: Civil War – 2016; Rush: Alles für den Sieg – 2013; Inglourious Basterds – 2009; Das Bourne Ultimatum – 2007; "Die fetten Jahre sind vorbei" – 2004; Good Bye Lenin! – 2003; Nichts bereuen – 2001). In seiner zweiten Heimat Barcelona sei sie ihm in einer Tapas Bar gekommen, sagt er. In ein Drehbuch gegossen hat sie Daniel Kehlmann, der neben passgenauen Dialogen alles reinpackt, was die Gesellschaft in dieser Zeit bewegt – Reich gegen Arm, Ost gegen West, Wohnungsnot, Gentrifizierung und noch durchgestochene Internetchats, die schon Karrieren zerstört haben, ohne dass nach der Echtheit der Chats gefragt worden wäre. Der Regisseur Daniel Brühl überträgt das selbstbewusst auf die Leinwand, baut Pausen ein, damit die Protagonisten mal wieder runterkommen, lässt dann cool das nächste Bömbchen platzen, lässt Nebenfiguren durchs Bild laufen, die die Handlung an der richtigen Stelle auflockern. Und als am Ende wieder zwei kommen mit der Bitte, ein Foto zu machen, ist der Niedergang des aufstrebenden Stars nicht besser ins Bild zu setzen: Gönnerhaft legt Daniel seinen Arm um die Frau, lächelt in die Handykamera, als die ihn verwirrt zur Seite stupst. Nee, meint sie, von uns beiden ein Foto – von sich und ihrem Freund. Die beiden kennen den Star, den bis dahin alle erkannt haben, gar nicht. An diesem Sommertag in Berlin kämpft der Filmstar nicht als "Laser Angel" gegen dunkle Mächte. Im Finale steht nur Daniel gegen das Leben.

Wertung: 7 von 8 €uro
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