Bei einem Flug mit einer X-15 durchbricht der Testpilot Neil Armstrong im Jahr 1961 die Wolken. Fast gelingt ihm der Wiedereintritt nicht, da er von der Atmosphäre abprallt, dennoch kann er sicher in der Mojave-Wüste landen.
Armstrong und seine Frau Janet haben zwei Kinder, doch seine Tochter Karen stirbt noch vor ihrem dritten Geburtstag an einem Gehirntumor. Der Zivilist bewirbt sich beim Gemini-Projekt, weil die NASA Piloten mit Erfahrungen als Ingenieur sucht, wird aufgenommen und zieht mit seiner Familie nach Houston.
Jahrelang musste die NASA zuschauen, wie die Sowjets ihnen bei jedem technischen Meilenstein in der Raumfahrt zuvorgekommen waren. Die Teilnehmer des Programms bereiten sich 1964 mittels eines Simulators auf die Missionen vor. Ein Jahr später startet die NASA das Gemini-5-Projekt, Armstrong seinerseits soll das Gemini-8-Programm leiten, bei dem eine Kapsel an eine Agena-Rakete andocken soll. Bereits in seiner Zeit als Testpilot musste Armstrong eine Reihe von Todesfällen beklagen, doch auch im Weltraumprogramm kommt es immer wieder zu Unfällen mit tödlichem Ausgang. Dies lässt den Astronauten nicht unberührt, Janet hingegen will einfach nur ein normales Leben leben – was nicht gelingt, spätestens als ihr Mann beginnt, sich auf die Apollo-Mission vorzubereiten, in dieser Zeit aber drei von Armstrongs Kollegen sterben.
Nach einem fast tödlich endenden Test des Mondlandungsgerätes begeben sich Armstrong und seine Kollegen Mike Collins und Buzz Aldrin 1969 auf ihre große Mission …
Nach etwa 100 Minuten schließt sich der Kreis; wird klar, warum Damien Chazelle seine Zuschauer zuvor mit wackliger Handkamera in schweigende Gesichter hat gucken lassen, warum er uns Sitzfleisch abverlangt für die Erkenntnis, dass diese Männer nicht nur beim Flug zum Mond ihr Leben riskieren, sondern tägich damit rechnen, abends nicht nach Hause zu kommen – und was das mit und aus diesen Männern macht. Schweigende Stoiker, die sich in die Arbeit, auf das Ziel stürzen und alles drumrum ausblenden. Um den Rest kümmern sich die schweigenden Ehefrauen und trauernden Witwen.
Nach 100 Minuten sind die meisten Filme zu Ende. Nach 100 Minuten startet in „Aufbruch zum Mond“ dieser Aufbruch, die Saturn-V-Rakete hebt ab und hier kann selbst Chazelle sich die majestätischen Aufnahmen nicht verkneifen, die er in seinem Film sonst konsequent vermeidet. Aber was soll er auch machen, jeder im Kinosaal weiß ja, dass die Männer in der weißen Rakete sich da gerade aufmachen, das größte Happy End der Menschheitsgeschichte (soweit die bekannt ist) zu schreiben. Also muss alles, was schief gehen kann, vorher schief gehen. Und also gibt es zwar majestätische Bilder des Raketenstarts, aber es gibt kein Massenpicknick mit Stars-and-Stripes, keine Land-of-the-Free-Party, mit der James R. Hansens Buchvorlaga zu diesem Film tatsächlich beginnt.
„In gewisser Weise ist es die wahre Geschichte von der Geburt eines echten Superhelden.“, sagt Chazelle. Einer mit Depressionen, möchte man ergänzen, wenn man seinen Film gesehen hat. Bis die Saturn-V startet, hat Neil Armstrong seine zweijährige Tochter an einen Hirntumor verloren sowie fünf Kollegen aus dem Raumfahrtprogramm an schief gegangene Flugexperimente. Er selbst erlebt im Verlauf des Films zwei Situationen, die sein Leben sofort und ohne Rückfragen beendet hätten, hätte er nicht kühlen Kopf bewahrt und weiter Schalter geklickt, Hebel geschoben und Knöpfe gedrückt – was ein wenig wirkt, als würde er in rasant rotierenden Mordmaschinen, in denen die Luft ausgeht, hochkonzentriert seinen Sytemadministrator memorieren „Haben Sie's schon mal mit 'nem Neustart versucht? Mal Strg.-Alt.-Entf.?“
Den Tod der anderen sehen wir nicht. Eben hält er noch die Hand seiner kleinen Tochter, im nächsten Bild senkt sich ihr Sarg ins Grab. Der Tod zweier Astronautenkollegen wird durch einen Dialog plus Leichenschmaus transportiert; der Tod dreier weiterer in einer visuell beeindruckend gelösten Szene. Chazelle, augenscheinlich nicht am Effektfilm interessiert, zeigt drei Raumfahrer in einer Probekapsel, in der ein Kabelbrand zu Explosion führt – die Explosion sehen wir nicht, nur die Wucht, mit der sie die schwere Tür der Raumkapsel nach außen beult. Sein Superheld aber kommt durch, der Tod räumt nur seine potenziellen Konkurrenten um den Flug zum Mond aus dem Weg. Chazelle macht aus Neil Armstrong die Figur des Chosen One, des Jedi-Ritters, dessen Bestimmung es einfach ist, der „First Man“ auf dem Mond zu sein.
Die Kamera klebt an Armstrong, kaum eine Szene gibt es ohne ihn, und wenn, dann dreht sich das Gespräch in der Szene um ihn oder seine Mission. Und da beginnen die Probleme, die der Film seiner Erzählung bereitet. Die hohe Anspannung, die Testpiloten und Astronauten an Bord ihrer Sardinenbüchsen haben, und die sich ins Unbeschreibliche steigert, wenn irgendetwas schief läuft und unmittelbar das eigene Leben zu beenden droht, schildert er in furiosen Subjektiven der Piloten. Die Szenen haben mit schönem Film nichts zu tun, schön, wenn wir ab und an mal was erkennen an Bord der Kapsel, wenn wir erahnen, was da gerade abgeht. Aber durch die subjektive Kamera sind wir mit Armstrong Insassen einer Seifenkiste aus Blech, die nicht tut, was die Ingenieure wollten, dass sie tut und wir sind die Gelackmeierten. Keine bangenden Radiohörer, keine besorgten Gesichter im Kontrollzentrum, in diesen Szenen sind wir entsetzlich allein mit Armstrong, der hoffentlich eine Idee hat, was er jetzt tut.
Dieselbe durchschüttelnde Kamera begleitet uns aber auch während der Grillpartys, Gartenfeste, Trauerfeiern, Empfänge und Dialogszenen im heimischen Garten, in denen die Russen, die bisher immer schneller waren als die Amerikaner, respektvoll verteufelt, der Mond mystifiziert, die Mission überhöht, das Steuergeld für die Mond-Mission in Frage gestellt, die Toten beklagt werden. In diesen Szenen irritiert die herumirrende Kamera mit ihren gewollt unscharfen Bildern derart, dass die Erzählung auf der Strecke bleibt; das Form-follows-Function-Prinzip, die Idee, dass in der Kunstform Film eine Kamera das Drama abbildet, ist außer Kraft gesetzt. Die Figuren erleben große Dramen mit unbewegten Gesichtern – das haben die Piloten so verinnerlicht. Ihre irre Anspannung soll sich über die vibrierende Kamera vermitteln. Bei Chazelle wird sie anonymer Akteur ohne Zugriff aufs Geschehen.
Im Non-Fiktionalen wäre dieser Kamera-Akteur der Reporter, der den Ereignissen hinterher rennt („Ich bin hier gerade auf der Spur von …“). Zwar schauen wir einer „wahren Geschichte“ zu, aber eben einer dramatisierten in einem Spielfilm, der sich nur belanglose historische Freiheiten nimmt, zu der ein hinterher rennender Reporter mit hechelnder Kamera eben nicht gehört. In seinem Spielfilm-Portrait reißt Chazelle mit seiner furchtbaren Kameraarbeit in den Familienszenen mit dem Hintern ein, was er in den Raumflug-Szenen aufgebaut hat – mit eben dieser entfesselten Kamera.
Vor der wackligen Kamera erzählt Chazelle neben der „gefährlichsten Mission aller Zeiten“, wie das Kinoplakat raunt, eine Familiengeschichte aus den 60er Jahren. Er geht arbeiten, sie kümmert sich um Haus und Kinder und akzeptiert schicksalsergeben, dass ihr Mann jeden Tag nicht mehr nach Hause kommen könnte. „Er war so anders als all die andern Jungs am College“, erklärt sie ihrer Nachbarin die Wahl des Ehemannes. Erst am Abend bevor's los geht, haut sie auf den Tisch und zwingt ihn, mit den Söhnen darüber zu sprechen, dass er vielleicht von der Mondfahrt nicht heimkehren wird. Und das tut er dann, als würde er gegenüber Reportern ein Pressestatement verlesen. Claire Foy spielt diese Janet Armstrong als loyale Ehefrau und starke Mutter (und erinnert in diesen Tagen des deutschen Filmstarts, in denen auch 100 Jahre Frauenwahlrecht gefeiert wird, welch langen Weg Frauen auch seit den 60er Jahren noch zurücklegen mussten).
Ihren Mann, diesen in sich gekehrten, Ängste verdrängenden, ablenkende Probleme beiseite schiebenden Neil Armstrong spielt Ryan Gosling, der solche Typen, die ohne viele Worte einfach ihr Ding machen und nicht verstehen, wenn das eine oder einer nicht versteht, oft spielt (Blade Runner 2049 – 2017; La La Land – 2016; The Nice Guys – 2016; The Big Short – 2015; Only God Forgives – 2013; Gangster Squad – 2013; The Place Beyond the Pines – 2012; The Ides of March – 2011; Crazy, Stupid, Love. – 2011; Drive – 2011; Blue Valentine – 2010; Lars und die Frauen – 2007). Einmal, ganz zu Anfang der 140 Filmminuten, weint er hemmungslos um seine tote Tochter, die er nicht vor dem Tumor hat bewahren können.
Damien Chazelle (La La Land – 2016; Whiplash – 2014) macht daraus im Film seine dramaturgische Klammer, die sich berührend auf dem Mond schließen wird. Aber bis dahin, bis da oben kommt Gosling mit einem Gesichtsausdruck plus einer gelupften Augenbraue aus, ein Minimalismus, den er zur Kunstform gebracht hat. Was in ihm vorgeht, bleibt uns verschlossen. Er nimmt Todesnachrichten genauso unbewegt zur Kenntnis wie, dass er zum Kommandanten der Mondmission berufen wurde, was der Erfüllung seines Lebenstraums gleichkommt. Im Kinosessel bauen wir eine Beziehung zu ihm über den Umweg auf, dass er ja Ryan Gosling – und Neil Armstrong – ist, also gleich zwei gute, vertrauenswürdige Figuren. Die Figur als solche auf der Leinwand aber bleibt mir fremd. Und ununterbrochen irrlichtert die Kamera.
Nach etwa 100 Minuten schließt sich der Kreis, erklärt sich das Gesehene zu Mosaiksteinchen, die das Abenteuer dieses heute mehr als damals unglaublichen Flugs unterstreichen sollen. Keine wehenden Fahnen, keine Fanfaren. Der Film bleibt bei den einsamen, stummen Piloten, die noch nicht wissen, ob sie durchkommen – anders als die tausenden Fans beim Picknick rund ums Raketengelände, die nicht mehr riskieren, als ihre gute Laune, wenn die Rakete explodiert, die Kapsel ins Trudeln gerät, der Sauerstoff ausfällt oder da oben sonstwas Tödliches passiert.
Armstrong schleicht sich nachts aus seinem Haus, ein gehauchter Abschiedskuss, dann gibt es noch ein NASA-Frühstück, das wirkt, als gäbe es kein weiteres, dann laufen die Astronauten in ihrer Montur durch düstere Gänge, begleitet vom stummen Applaus einiger NASA-Mitarbeiter, dann werden sie in die Kapsel gezwängt, es ist eng, stickig, der Countdown zählt, dann bricht in den fünf Triebwerken der Saturn-Rakete die Hölle los, es folgen majestätische Bilder, aber die Angst ist weg. Der Zuschauer im Kinosessel hat von hier ab nichts mehr zu befürchten. Dass er weiß, mitfühlt, was die Astronauten, die noch nicht wissen, dass die Gefahr aus bleibt, fühlen, verdankt er den stressigen, gefährlichen, tödlichen drei Flugszenen im zurückliegenden Film.
Die halbe Stunde Flug zum Mond, Mondlandung, Hüpfen in der Schwerelosigkeit, die Erdkugel am Firmament, das endgültige Loslassen der toten Tochter, inszeniert Chazelle in beeindruckend langsamen, stummen Bildern. Auf dem Mond ist auch er endlich in seinem Film angekommen; so sehr, dass er Neil Armstrong dann unspektakulär sein Liebesleben zurückgeben kann. Der „Aufbruch zum Mond“, dieser kleine Schritt für einen Mann, jener große für die Menschheit, gerät zur Reinwaschung einer geschundenen Seele. Also doch ein großer Schritt auch für einen Mann.