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Plakatmotiv: Nur die halbe Geschichte (2020)

Beweis: Kino ist
Forever Young

Titel Nur die halbe Geschichte
(The Half of it)
Drehbuch Alice Wu
Regie Alice Wu, USA 2020
Darsteller
Leah Lewis, Daniel Diemer, Alexxis Lemire, Wolfgang Novogratz, Collin Chou, Becky Ann Baker, Enrique Murciano, MacIntyre Dixon, Catherine Curtin, Alec Tincher, Bonnie Flannery, Tyler Crozier, Spencer Wawak, Patrick T. Johnson, Gabi Samels u.a.
Genre Romantik, Komödie
Filmlänge 104 Minuten
Deutschlandstart
1. Mai 2020 (Streaming)
Website netflix.de/nurdiehalbegeschichte
Inhalt

Die unscheinbare Ellie schreibt nur Einser, hat keine Freunde und wird von ihren Mitschülern an guten Tagen übersehen, an schlechten gehänselt. Nur wenn sie Hausaufgaben oder Aufsätze schreiben soll, kommen alle zu ihr, was Ellie dann auch gegen Bezahlung macht.

Paul allerdings will ein ganz anderes Schriftstück von ihr: einen Liebesbrief. Er ist in Aster verknallt, doch der eigene Versuch des netten und tollpatschigen Jungen ist alles andere als gelungen. Ellie hilft Paul nicht nur, indem sie einen neuen Brief für ihn schreibt, sondern freundet sich mit ihm an, gibt ihm bald noch mehr Tipps um seine Schüchternheit gegenüber Aster abzulegen.

Doch es gibt ein Problem, denn Ellies Liebesbrief für Paul war so gut und traf so ins Herz, weil sie ihre eigenen Gefühle aufgeschrieben hat: Sie ist ebenfalls in Aster verliebt …

Was zu sagen wäre

Manchmal hat es ganz unerwartete und schöne Konsequenzen, gegen Schusswaffen zu sein. Wäre Alice Wu das Thema egal, gäbe es diesen Film nicht. Sie hat seit 15 Jahren keinen Film mehr gedreht. Und der damals, "Saving Faces" (2004), war ihr Debüt als Regisseurin. „Mangelnde Disziplin“, erklärt sie lapidar die lange Pause und, dass sie schließlich der US-Waffenlobby NRA einen fetten Scheck ausgestellt und den ihrer Freundin mit der Bitte gegeben hätte, diesen Scheck abzuschicken, wenn sie, Wu, nicht binnen fünf Wochen einen Drehbuchentwurf vorlege.

Und jetzt gibt es da diesen unerwartet warmherzigen, freundschaftlichen, romantischen, lustigen schönen Coming-of-Age-Film, der nur deswegen nicht den Weg von seiner Premiere beim New Yorker Tribeca Festival im April 2020 in die Kinos gefunden hat, weil im April 2020 das Coronavirus Sars-Cov2 grassierte und Tribeca deshalb nicht stattfand. Der Streamingdienst Netflix griff zu.

Just another Coming-of-Age-Movie. Kennst Du einen, kennst Du alle. Die Hauptfiguren sind noch jung, wissen noch nicht mit ihren Gefühlen umzugehen, werden im Verlauf der Geschichte etwas lernen, über ihren bis dahin kindlich geprägten Horizont hinauswachsen, ihre Herzlichkeit im Inneren entdecken, an- und miteinander Erfahrungen sammeln. Kennst Du einen, kennst Du alle – so what! Wäre dies ein gängiges Kriterium, würden auch die meisten Filme in allen anderen Genres durchfallen – und auch alle Menschen. Denn Teenager hat es schon im 12. Jahrhundert gegeben, die hießen da anders, aber es gab sie schon. Damals waren Teenager häufig schon verheiratet, hatten also andere Probleme, und womöglich haben die Minnesänger, frühe Vorläufer des modernen Kinos, ihre Texte schon damals alle paar Jahre den veränderten Gegebenheiten angepasst. Kurz: So wie alle paar Jahre neue Teenager wieder ihren Müll überall rumliegen lassen, braucht es auch alle paar Jahre Filme, die sich wieder mit diesen Typen messen.

"Nur die halbe Geschichte" bietet reichlich Neues. Neue Gesichter zum Beispiel. Einfühlsam inszenierte Bilder. Andere Fallhöhen. Unerwartete Konstellationen. Eine Neuinterpretation des ewigen Klassikers "Cyrano de Bergerac". Zuletzt gab es die mit Das schönste Mädchen der Welt (2018). Steve Martin feierte diese besondere Form der Dreiecksgeschichte 1987 in Roxanne, und Jean-Paul Rappeneau feierte den Klassiker 1990 mit seiner Neuerzählung des literarischen Cyrano-Dramas. Das Versteckspiel hinter Masken in Liebesdingen wird ja auch immer nötiger in Zeiten, in denen Kameras jede Gefühlsregung offen und kalt auf allen Social-Media-Kanälen ausstellen, der junge Mensch also immer verklausulierter seine Liebe erklären muss, will er nicht Gefahr laufen, von der eigenen Bubble, der eigenen Hood als Weichei verlacht zu werden. Gefühle können heute tödlich enden. Das Drama des Cyrano: Er, der wortgewandte Schöngeist, hält sich für hässlich, deshalb chancenlos bei der von ihm verehrten Roxane und so entwirft er anonym Liebesbriefe im Namen eines attraktiven Dünnbrettbohrers, der der Schönheit der jungen Frau verfallen ist aber kaum in der Lage, im Gespräch Subjekt, Prädikat und Objekt in die richtige Reihenfolge zu bringen, geschweige denn, dort auch noch Inhalte unterzubringen. Die Alibi-Briefe des Cyrano verzaubern Roxane aufgrund der schöngeistig melancholischen Sprache, welche Cyrano wiederum nur gelingt, weil er die Adressierte aufrichtig aber mutmaßlich chancenlos liebt. In gewisser Weise sind alle Coming-of-Age-Filme seit der Zeit, in der dieser Begriff erfunden wurde, Variationen dieses Cyrano-Mythos'.

Die Schöne ist nie nur schön, der Einfache nie nur einfach, die Brillenschlange nie nur schlau. Die Maske, hinter der sich die wahre Liebe verbirgt, ist die Lehre des Coming-of-Age-Films, in dem dann meistens der Supersportler der Star an der Schule ist, der selbstverständlich das schönste Mädchen datet. Bei Alice Wu ist der Footballspieler ein geistig noch gebremstes Kind, das in dieses schönste Mädchen zwar verknallt, aber unfähig ist, sich ihr zu nähern, weil dieses schönste Mädchen von der Gesellschaft quasi seit seiner Geburt schon Trig zugeordnet ist, dem Sohn des reichsten Mannes im County, dem die halbe Stadt gehört, und die das auch so okay findet, weil das halt so ist in der kleinen christlichen und konservativen Stadt Squahamish. Sie weiß es noch nicht besser, sie ahnt zu Beginn noch nur, dass dieser Trig keine Option für ein bestenfalls interessantes, wenigstens überschaubares Leben ist. Denn sie interessiert sich für Dinge – Literatur, Film, bildende Künste – die von den hormonell gesteuerten Primateninstinkten sowohl des Footballers als auch Trigs unendlich weit entfernt sind.

Bevor wir die Hauptfigur dieses charmanten Films aus den Augen lassen, die Brillenschlange: Die ist hier eine Chinesin, in China geboren, in Squahamish aufgewachsen, Mutter gestorben, Vater, in China diplomierter Ingenieur, aber in den USA als Schrankenwärter gestrandet – „Wir sind nicht hierher gekommen, damit Du wirst wie ich. Sondern, damit Du wie Deine Mutter wirst.“ Aber er beherrscht die Sprache nicht und, um dem abzuhelfen, hängt er ununterbrochen vor der Glotze und guckt US-Filme, ohne nennenswerte sprachliche Fortschritte zu gewärtigen. Sie weiß, dass sie die Außenseiterin in ihrer Welt ist. Sie hat sich darin eingerichtet. Das Problem dieser Einser-Schülerin sind nicht die Mitschüler, für die sie Aufsätze schreibt, damit jene nicht durchfallen; der mangelnde Respekt ihrer Mitschüler ist ihr lästig, aber er bringt ihr pro Aufsatz 20 Dollar ein. 20 Dollar, die sie dringend benötigt, denn ihr eigentliches Problem ist ihr Vater, der seit dem Tod seiner Frau – ihrer Mutter – in die Lebensunfähigkeit abdriftet, wo er nicht mal mehr in der Lage ist, die Stromrechnung zu bezahlen. Sie ist ganz froh, nicht auch noch mit ihrer pubertären Libido konfrontiert zu sein. Und steckt dann plötzlich mitten drin als zentrale Akteurin im pubertären Gefühlschaos.

Vor allem Leah Lewis als äußerlich von gesellschaftlichen Zwängen unbeeindruckte Ellie Chu ist jede Streaminggebühr wert. Dieses Fleisch gewordene Kindchenschema mit Mandelaugen trägt den Film souverän auf seinen schmalen Schultern, prägt aber auch schauspielerisch bemerkenswerte Momente. Alexxis Lemire als Love-Interest Aster tingelt feinfühlig irritiert zwischen dem Mädchen das (an der Seite des Sohnes der Stadt) fürs Leben ausgesorgt hat und jenem, das glaubt, dass da doch noch was anderes existieren muss, sei es bei dem schweigsam holzköpfigen Footballer oder der irritierend klaren Ellie. Dazu gesellen sich eine aufgeschlossen liberale Lehrerin, ein fatalistischer Vater mit hohem Mitleidfaktor und der Traum eines Metzgersohnes, für den die Familientradition seinen innovativen Wurstprodukten – „Würstchen-Tacos“ – im Wege steht.

Ein Film darüber, dass Liebe sprachlos machen, Lebenslügen offenbaren und zu einzigartigen Touchdowns führen kann; darüber, dass Coming of Age das ganze Leben bedeutet.

Wertung: 6 von 8 €uro
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