Annie Cameron lebt das Leben einer gesunden Middle-Class-14-Jährigen. Raufkumpelige Geschwister, zugewandte, wohlhabende Eltern, eine beste Freundin, die besser ist als alle anderen auf der Welt. Und mit einem Brieffreund. Charlie, 16 Jahre - sie kennen sich und reden miteinander über einen Online-Chatroom. Gesehen haben sie sich noch nie; die modernen Zeiten halt, sind die Eltern überzeugt und schenken Annie zum Geburtstag das gewünschte Laptop.
Endlich kann Annie rund um die Uhr Kontakt mit Charlie haben. Annie hat sich verliebt. Da gesteht Charlie ihr, dass er gar nicht 16 ist, sondern 20 Jahre alt. Dieses Geständnis wirft Annie kurz aus der Bahn. 20 Jahre. Aus Annies Sicht viel zu alt. Charlie kann sie besänftigen. Ihre Gespräche hätten doch gezeigt, dass sie geistesverwand seien, über alles reden könnten. Das sei doch das Ausschlag gebende. Sie beschließen, sich zu treffen.
Am vereinbarten Treffpunkt spricht Annie ein Mann an, der sich als „Charlie” vorstellt. Annie schaut ihn fassungslos an. „Du bist aber nicht 20!” Wieder kann Charlie sie beruhigen und in der Folge in ein Motelzimmer bugsieren. Dort vergeht er sich an dem Mädchen.
In der Schule beichtet Annie ihrer besten Freundin Brittany, die von ihrem Chatfreund Charlie weiß, was im Motel geschehen ist. Brittany hatte Annie schluchzend in einer Zimmerecke entdeckt, wo Annie ihr auch gestand, dass sie seit jenem Vorfall keinen Kontakt mehr zu Charlie bekomme. Brittany ist von der Nachricht überfordert und informiert die Schulleitung und diese schließlich die Polizei. Das FBI schaltet sich ein. Annies Eltern sind zutiefst erschüttert.
Annie selbst will das alles nicht wahrhaben, sie redet sich selbst ein, dass Charlie ihr Freund sei und sie liebe. Annies Vater erträgt die Situation nicht. Er fühlt sich verantwortlich, glaubt, seine Tochter nicht gut genug beschützt zu haben. Er beschließt, den Vergewaltiger auf eigene Faust zu suchen …
Nach 15 Minuten wirkt der Film so, als ginge er mich nichts an, ginge an mir vorbei - „fröhliche Mittelklassefamilie” und „der erste Chat-Lover”. Naja … und? Und plötzlich wird's unangenehm pervers, wobei der Film einen Stolperstein nicht los wird. Die Ausgangssituation nämlich ist schwierig: Glaube ich, dass eine 16-Jährige, die in so aufgeklärt, gutbürgerlichem Umfeld groß wird, so naiv ist, wie Annie das offenkundig ist?
David Schwimmer, der in den 1990er Jahren Karriere machte als der sympathisch knuddlige Ross in der Dauerbrenner-Sitcom „Friends” (1994 - 2004), akzeptiert den Stolperstein und baut ein Umfeld mit lauter glaubwürdigen Figuren, ohne den Zeigefinger zu heben oder zu verurteilen. Sukzessive versinkt das Leben der heilen Familie im Morast gegenseitigen Misstrauens; ein ums andere Mal umschifft Schwimmer dabei die Klippen des Klischees. Nein, die Eltern trennen sich nicht, auch nicht mit gegenseitigen Vorwürfen. Jeder ist auf seine Weise hilf- und schutzlos und versucht, klarzukommen mit der Situation, dass die Tochter vergewaltigt wurde.
Clive Owen („The International” - 2009; „Sin City” - 2005) spielt den Daddy. Da liegt der Gedanke nahe, der Film steuere in Richtung eines modernen „Ein Mann sieht rot” - also eine Art Selbstjustizthriller mit moralisch-intellektuellem Touch. Auch das deutsche (links) und das dänische (rechts) DVD-Cover des Films legen das nahe.
Catherine Keener spielt Mom. Sie hatte ihre großen Auftritte in Filmen, die nicht dem Mainstream folgen („8mm - Acht Millimeter” - 1999; „Being John Malkovich” - 1999; „Capote” - 2005). Auch hier, in der Rolle der entsetzten Mutter, die versucht, ihr Leben zusammenzuhalten, überzeugt sie.
Ein Film über Familie, Pubertät und über das Monster im Nachbarn.
Und die perverse Randnotiz ist, dass Clive Owen nicht nur sorgender Daddy ist, sondern als Manager einer Werbeagentur auch versucht, mit halbnackten Teenager-Mädchen am Strand die Aufmerksam neuer Kunden zu gewinnen. Mehr als einer solcher Kunden ist wahrscheinlich glücklicher Familienpapa, angesehener Lehrer an der Schule im Ort - der in seiner Freizeit kleine Mädchen vergewaltigt. Dieser Film hat viel, was sich zu sehen lohnt.