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Plakatmotiv: Systemsprenger (2019)

Wow!

Titel Systemsprenger
Drehbuch Nora Fingscheidt
Regie Nora Fingscheidt, Deutschland 2019
Darsteller

Helena Zengel, Albrecht Schuch, Gabriela Maria Schmeide, Lisa Hagmeister, Melanie Straub, Victoria Trauttmansdorff, Maryam Zaree, Tedros Teclebrhan, Matthias Brenner, Louis von Klipstein, Barbara Philipp, Amelle Schwerk, Sashiko Hara, Fine Belger, Imke Büchel u.a.

Genre Drama
Filmlänge 125 Minuten
Deutschlandstart
19.September 2019
Website systemsprenger-film.de
Inhalt

Egal ob Pflegefamilie, Wohngruppe oder Schule, Benni fliegt sofort wieder raus: zu laut, wild und unberechenbar. Die Neunjährige ist, was man im Jugendamt einen "Systemsprenger" nennt.

Dabei will Benni doch nur Liebe, Geborgenheit und wieder bei der Mutter wohnen. Die aber hat Angst vor dem unberechenbaren Kind. Als keine Lösung mehr in Sicht scheint, versucht der Anti-Gewalttrainer Micha sie aus der Spirale von Wut und Aggression zu befreien.

Es ist die warmherzige Frau Bafané vom Jugendamt, die dieses letzte Experiment wagt. Sie engagiert Micha, als sie selbst zu verzweifeln droht. Denn niemand will Benni mehr aufnehmen. Von der Schule ist sie dauerhaft suspendiert. Nicht einmal der Alltag mit ihr ist zu schaffen: Wegen traumatischer Erfahrungen in frühester Kindheit darf niemand ihr Gesicht berühren. 

Eigentlich arbeitet Micha mit straffälligen Jugendlichen. Aber Bennis Schicksal berührt ihn. Er will ihr helfen. Und beweisen, dass er schaffen kann, woran alle bisher gescheitert sind. Nach anfänglichem Widerstand lässt Benni sich auf Micha ein, und statt einer erneuten Einweisung in die Kinderpsychiatrie ermöglicht er ihr einen gemeinsamen Aufenthalt in der Natur. Drei Wochen Erlebnispädagogik – ohne Strom und fließendes Wasser.

Die Zeit im Wald stellt nicht nur Benni, sondern auch Micha auf eine harte Probe. Der sonst so selbstbewusste Mann kommt an seine Grenzen 

Was zu sagen wäre

Keine Sorge. Is' Sicherheitsglas“, sagt der Betreuer hinter der Glastür, als Benni mal wieder ausrastet und mit Plastiktraktoren um sich schmeißt. Wie umgehen mit Menschen, die nicht ins System passen? Mit Kindern, die nichts dafür können, dass sie unkontrolliert ausflippen, weil, dass sie ausflippen hat ja einen Grund, der irgendwo in der frühen Kindheit liegt und schon ist man mittendrin im Pädagogendeutschland, in der immer eine Maßnahme greift, es einen Träger gibt, die oder der dem Kind helfen soll.

Soll.

Tut sie aber selten. Nora Fingscheidt entführt uns auf einen Achterbahntrip, auf dem wir mal zwei Stunden die Perspektive eines solchen Kindes einnehmen dürfen. Auf dem auch Pädagoginnen und engagierte Sozialarbeiterinnen und Ärztinnen – es sind meistens Frauen, die sich mit solchen Charakteren auseinandersetzen – auftreten und kluge Sachen sagen, dabei aber schon abgekämpft und mit ideenlosem Blick ihr Gegenüber ansehen. Frau Bafané, die warmherzige Frau vom Jugendamt, bricht irgendwann weinend in den Armen der kleinen Benni zusammen ob all der Hoffnungslosigkeit in ihrer Welt – Gabriela Maria Schmeide, gestandene deutsche Schauspielerin, die Frau Bafané spielt, wirkt wie eine frisch vom Jugendamt gecastete Mitarbeiterin. Aber: Es kommt zu keinem Sozialporno.

Systemsprenger werden "Systemsprenger" genannt, weil sie in keine Norm passen. Niemand ist schuld. Davon geht der Film aus und daraus macht Nora Fingscheidt einen hinreißenden Film. Benni ist ein nettes Mädchen und gleichzeitig eine Handgranate mit verrosteter Sperre. Helena Zengel spielt sie, elf Jahre alt und mit "Spreewaltkrimi" und "Die Spezialisten" TV-erfahren. Und eine grandiose Performerin. Sie kann jederzeit hochgehen. Und tut das auch. Fair beobachtet der Film alle Anstrengungen, Benni irgendwie zu integrieren. Aber integriere mal eine Zeitbombe. Hier kommt die Perspektive Bennis ins Spiel, aus der diese Geschichte erzählt wird. Denn sie ist nie einfach nur explosiv. Sie ist auch verletzlich. Selbst im Kinosessel spüren wir, dass sie auch im gewaltigsten Ausraster ein verängstigtes, einsames Mädchen ist.

Einen Dokumentarfilm über Systemsprenger zu drehen, habe für Fingscheidt nie als Option gedient. „Ich wollte ein wildes energiegeladenes audiovisuelles Kinoerlebnis erschaffen, das keinen Anspruch auf Realitätswiedergabe erhebt. Denn die Realität ist viel schlimmer“, so Fingscheidt.

Wenn Benni wieder mal ausrastet und rumkreischt, ist das anstrengend, aber wieso kann sie auch nicht einfach bei ihrer Mutter leben? Dass die mit einem Jan zusammen ist, der nicht ihr Vater ist und ein gleichgültiges Arschloch, muss sie ja nicht verstehen; sie hat vor Jan zu ihrer Mutter gehört. Dass ihre Mutter mit Benni überfordert ist? Ja, okay. Aber sie ist schließlich die Mutter. Dass ihr die absolute Aufmerksamkeit zuteil wird, wenn sie laut kreischt und tobt, während sie sonst ein Kind unter vielen in der Einrichtung ist. Soll sie diese Lehre nicht verinnerlichen? Benni testet ihre Grenzen weidlich aus und stößt in Micha auf einen, der das Spiel auch ganz gut beherrscht; bisher allerdings mit straffälligen Teenagern. Mit einer (vermutlich) traumatisierten 9-Jährigen hatte er es noch nicht zu tun. Hier hat der Film, immer noch aus der Perspektive des Mädchens erzählt, seine emotional wärmsten Momente, zu denen auch gehört, dass wir manchmal Bilder sehen, die gar nicht existieren, außer in Bennis Kopf. Nora Fingscheidt variiert die Farbsättigung ihrer Bilder je nach Situation. Mal sind die Bilder sehr bunt und warm, mal sind sie ausgebleicht, weißgrau und kühl. Mal sind sie hektisch mit schwer erträglicher Wackelkamera, mal sind sie sehr ruhig mit bedacht smoother Kameraführung, je nach der Situation, in der Benni sich gerade befindet.

Mit dieser Methode, die schon Steven Spielberg erfolgreich angewandt hat, nämlich die Welt aus der Sicht des Kindes zu filmen, gelingt Nora Fingscheidt in ihrem Spielfilmdebüt, das sich alle Lehren der Filmuniversität zu Herzen nimmt, ein packendes Drama ohne moralischen Zeigefinger.

Ihr Film sagt So ist die Welt. Und in der finden sich letztlich sogar die Bennis zurecht. Auf ihre Art.

Wertung: 8 von 8 €uro
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