Aber als mit der Zeit die Geschlechterfragen wichtiger wurden, die Pubertät begann zu wildern, trennten sich ihre Wege. Margo zog jetzt mit den reichen Jungs im Cabrio um die Häuser, war umschwärmter Mittelpunkt jeder Party. Quentin blieb der schüchterne Junge, der mit seinen Außenseiterfreunden im Orchesterraum der Schule abhängt, beste Noten nach Hause bringt und darauf zielt, mit 30 verheiratet zu sein, ein Haus und Kinder zu haben.
Margo hatte ihn in diesen zurückliegenden Jahren kaum mehr eines Blickes gewürdigt. Bis sie eines Abends bei ihm im Schlafzimmer steht. Sie brauche seine Hilfe – und sein Auto. Margo will sich mit einer Reihe von Streichen an ihren Schulfreunden rächen, die so gute Freunde dann offenbar doch nicht sind: an Jase, der sie mit ihrer besten Freundin Becca betrügt, an Lacey, ihrer anderen besten Freundin, die das wusste und nichts gesagt hat. Und an Chuck, dem Arschloch, der die Falschheit erfunden haben könnte.
Margos und Quentins Nacht beginnt in einem Baumarkt, in dem Margo die Utensilien kauft, die sie für ihre Streiche benötigt – Lenkradschloss, Haarentferner, jede Menge Plastikfolie und einen toten Fisch. Die Nacht endet hoch über dem nächtlichen Orlando mit fantastischer Aussicht – eine Nacht der Abenteuer mit romantischer Note. Jedenfalls für Quentin.
Für Margo offenbar nicht. Nach dieser Nacht ist sie spurlos verschwunden. Naja, fast spurlos. Nach Tagen meint Quentin, einen Hinweis auf Margos Verbleib zu entdecken, von ihr selber hinterlegt – Margo liebte Rätsel und noch mehr, sie zu lösen. Aus dem einen Hinweis werden Spuren, ergeben sich neue Hinweise. Quentin taucht in Margos Lebenswelt ein, liest ihre Walt-Whitman-Bücher, schwänzt sogar die Schule, um Hinweisen nachzugehen, stibitzt das Auto seiner Mutter, um nachts weiteren Hinweisen nachzugehen.
Diese Schnitzeljagd mündet in einen Roadtrip mit Quentins besten Freunden samt weiblicher Begleitung, der nicht allen Glück, aber wichtige Erkenntnisse bringen wird …
„Dieses bisschen“, sagt Margo am Ende ihrer Nacht der Abenteuer zu Quentin und hält Daumen und Zeigefinger ein paar Zentimeter auseinander, „ist Deine Wohlfühlzone. Aber alles was Du Dir wünscht, ist irgendwo weit weg da draußen. Du solltest Dich Dein ganzes Leben so fühlen, wie heute nacht!“ Nat Wolff (Das Schicksal ist ein mieser Verräter – 2014; Palo Alto – 2013), der Quentin so warmherzig, freundlich und für den Teenageralltag viel zu sympathisch – also perfekt – spielt, schaut sie da in diesem Moment an, als spreche sie eine fremde Sprache. So verliert Quentin Margo.
So ist das im Leben: Die Traumfrauen sind Traumfrauen, weil sie unerreichbar bleiben, weil sie Dinge tun, die wir uns niemals trauen würden – es sei denn, die Traumfrau leitet uns an und wir wachsen über uns hinaus. Aber dafür müssten wir cool sein, selbstbewusst, ohne Angst vor Risiko – oder wenigstens einer gewissen Lust auf Risiko. Aber Quentin träumt davon, in zwölf Jahren, Frau, Kinder, Haus und Vorgarten zu haben.
Der Titel „Paper Towns“ bezieht sich auf Städte, die Kartografen auf ihren Landkarten verstecken, um sich vor Raubkopierern zu schützen – es sind Städte, die real gar nicht existieren, lediglich die individuelle Autorenschaft beweisen. Margo fühlt sich analog dazu als Paper Girl, als falscher Mensch in einer falschen Stadt. Sie leidet darunter, dass alle in ihr irgendwas Großartiges sehen – nur nicht sie, das Mädchen Margo. Sie selbst, die junge Frau mit der großen Neugier und Lust auf Abenteuer, sieht sich als Projektionsfläche für allerlei Träume ihrer Kleinstadtfreunde missbraucht, die ansonsten alle ähnlich wie Quentin ihrem vorgestampften Alltag folgen, ohne zu wissen, wie das wohl gehen wird, ob das gehen wird und ob das nicht eigentlich blöd ist, weil ja – zum Beispiel – eben Margo offenbar so vorgefertigt nicht ist und trotzdem fröhlich und optimistisch ist.
Mit „Paper Towns“ inszeniert Jake Schreier (Robot & Frank – 2012) also eine klassische Coming-of-Age-Story: Menschen auf der Suche nach einem Sinn für Leben, beim Ausbruch aus ihren seit der Kindheit gewohnten Bahnen, die ihre erste große Lebens-Lektion lernen. Erzählt ist der Film fast wie ein Märchen mit Erzähler aus dem Off, der zwar nicht Es war einmal … sagt, aber eine Geschichte ankündigt, die gehört werden soll. Und es wird ein Märchen, in der der Held am Ende nicht seine Traumprinzessin am Arm hält, sondern sich und sein Leben und die Freundschaft zu seinen Freunden, die er als wertvoller erkannt hat als das, was die Typen haben, die vermeindlich das richtige Leben leben – mit Partys und Mädchen und Geld.
Das klingt nicht zufällig nach diesen pathetischen Finde-Dich-selbst-Filmen, die Hollywood am Fließband produziert. Geschichten über das Erwachsen werden handeln nun mal davon – schon Stephen Kings Stand by me, bei dem „Paper Towns“ Anleihen nimmt, handelt von diesem speziellen Gefühl des letzten gemeinsamen Schuljahres, bevor sich die Wege der best buddies mutmaßlich für immer, jedenfalls aber für lange Zeit trennen. Es gibt die obligatorischen Zutaten eines High-School-Films: Die reichen Schulhof Bullys sind da, der tapsige Spinner, die Außenseiter, die sexy Maid, die betonen muss „I have a Brain, You know!“ Und es gibt natürlich den Abschlussball, der in der ein oder anderen Form das Ziel aller Figuren ist. Nur eben nicht Margos Ziel.
Mit Margo wird aus dem klassischen High-School-Film auch ein Roadmovie, das von einer Suche erzählt. In der Story selbst von der Suche nach Margo, auf der Meta-Ebene von der Suche nach dem Sinn des Lebens. Auf ihrem Roadtrip, dem sich zwei Mädchen angeschlossen haben, entwickeln sich die unbedarften Jungs plötzlich sehr rasch, als hätten sie einen Pubertätsschub, die Welt um sie herum nimmt gleichzeitig märchenhaften Züge an. Eltern kommen da kaum vor. Neben Quentins immer liebevoller, zugewandter Mutter, die es normal zu finden scheint, dass ihr Sohn die Schule schwänzt und für mehere Tage ihr Auto nimmt, um mit Kumpels in den fernen Staat New York zu fahren, tauchen nur Margos Eltern auf, die das Paradebeispiel für elterliches Desinteresse und Erziehung nach Erziehungsratgeber darstellen (also einen guten Grund bieten, abzuhauen). Das wirkt auf der Leinwand – denkt man zwei Sekunden genauer drüber nach – behauptet, konstruiert, damit die Story funktioniert. In der literarischen Vorlage kann das mit simplen Nebensätzen und kommentierenden Gedanken eingehegt werden.
Aber diese Gedanken spielen keine Rolle mehr, wenn „Q“, wie alle Quentin nennen, dann Margo wieder gegenübersteht, die ganz überrascht ist, ihn hier, in the middle of nowhere, zu sehen. Es beginnt ein langer Abschied, eine melancholische Trennung. Aber es ist keine Trennung, bei der beide wortlos auseinandergehen, sondern eine, die keine Trennung sein muss, Quentin könne ja mitkommen, sagt Margo, bevor sie sich sanft küssen. Es ist eine Trennung, die an einem Anfang steht – für Margo der Anfang des Abenteuers namens Leben, für Quentin der Anfang eines Lebens mit selbstgesteckten – nicht fremdbestimmten – Zielen. Es ist ein langer Abschied, der im Kinosessel weh tut, weil er endgültig sein wird – Entscheidungen treffen heißt auch, loszulassen, zu verlieren. Die Erzählung bleibt in ihrer Struktur ein Märchen mit Prinzessinnen, Rittern, bösen Drachen und einer Grals-Suche. Wie jedes gute Märchen aber erzählt es im Kern eine wahre Geschichte.
Als Margo gibt Model Cara Delevingne ihre erste Hauptrolle. Die 23-Jährige, die vor drei Jahren von Chanel zum „Gesicht des Jahres“ gekürt worden war, füllt mit kratziger, rauer Stimme die Rolle der mehr ab- als anwesenden Margo wunderbar aus. Als ehemaliges Model hat sie gelernt, Projektionsfläche für alles und jeden zu sein, da ist ihre darüber genervte Anspannung mehr glaubhafter Kommentar als juvenile Attitüde, die sich ein Autor ausgedacht hat. Ich nehme Delevingne ihre zwischen den Welten wandernde Margo ab – und die starke Präsenz ihres Gesichts des Jahres drückt sich wie ein Wasserzeichen über den ganzen Film. Stark.
Als Quentin die High School, seine Freunde, seinen Heimatort für immer verlässt, sinniert er aus dem Off, was aus Margo (immerhin ohne Schulabschluss) geworden sei, man höre mal was von Schauspielerei in New York, mal von Surflehrerin in Kalifornien, aber er wisse eigentlich gar nichts und es sei auch an Morgo, diese Geschichte zu erzählen. Während er am Steuer seines Autos darüber nachdenkt, kommen ihm in der orangeroten Nachmittagssonne zwei Kinder auf einem Fahrrad entgegen – es sind Kinder, wie zu Beginn des Films Quentin und Margo, die ihre nachbarschaft erkunden. Vielleicht finden sie sogar einen Toten. Wer weiß das schon?