„Was im Lehrerzimmer passiert, bleibt im Lehrerzimmer“, sagt Carla Nowak, nicht ganz 30 Jahre alt, in einem Interview mit der Schülerzeitung. Auch wenn das für die Lehrerin zu diesem Zeitpunkt schon nur noch reine Wunschvorstellung ist. Es ist ihre erste Stelle, engagiert unterrichtet sie Mathematik und Sport in der siebten Klasse. Es läuft gut, sie kann die Heranwachsenden motivieren.
Als es in der Schule zu einer Reihe von Diebstählen kommt und bald einer ihrer Schüler verdächtigt wird, ist Carla empört und versucht, mit Hilfe ihrer Laptop-Kamera der Sache persönlich nachzugehen. Als sie das Video aus dem Lehrerzimmer auswertet, entpuppt sich die langjährige und unscheinbare Schulsekretärin Friederike Kuhn als vermutliche Täterin – ihre auffällige Bluse ist deutlich auf den Aufnahmen zu identifizieren, nicht jedoch ihr Gesicht. Die Aufdeckung der Tat versetzt Carla in ein unlösbares Dilemma – Frau Kuhn ist die Mutter des schüchternen Oskar, ihres in Mathematik begabtesten Schülers. Auch leugnet sie vehement die Tat, die auf dem Video nicht genau zu erkennen ist. Dennoch wird Frau Kuhn für die weitere Untersuchung beurlaubt.
Der Fall lässt sich nicht einfach lösen und zieht Kreise. Im Kollegium ist Carla schnell als idealistisch verschrien, empörten Eltern muss sie Rede und Antwort stehen und zwischen streitenden Schülern vermitteln. Je mehr sie sich bemüht, alles richtig zu machen, desto mehr gerät nicht nur sie selbst an ihre Grenzen. Das System Schule gerät aus dem Gleichgewicht …
Die Schule als eigener Kosmos. Nichts dringt von außen in den großen Bau mit den verglasten Gängen, symmetrischen Treppenhäusern und den freundlichen Klinkersteinen. Nichts, was die handelnden Personen nicht von draußen mitbringen. Aber das sehen wir nicht. Der Vater eines Schülers türkischer Abstammung ist Taxifahrer; das wars auch schon.
Für İlker Çatak ist sein Filmtitel Programm, kaum einmal verlässt die schwebende Kamera das Schulgebäude, meistens ist sie nah an der Hauptdarstellerin, der engagierten jungen Lehrerin Frau Novak zwischen Klassenzimmer, Turnhalle, Lehrerzimmer und den Gängen, die alle miteinander verbinden. Auch über sie erfahren wir nichts – wie lebt sie, wo sie lebt, fährt sie Auto, lebt sie allein? Wir erfahren knapp, dass ihre Eltern aus Polen stammen. Das war's. Den Rest erzählt uns Leonie Benesch, indem sie die Lehrerin einfach spielt. Wobei das unklar formuliert ist. Sie spielt sie nicht, sie ist Frau Nowak. So sehr verschwindet sie hinter dieser Rolle, dass wir im Kinosessel überrumpelt sind, diese arme Frau irgendwann in Schutz nehmen wollen vor dem Horror, in den sie an ihrer Schule gerät – Beneschs Kunst kennen wir seit 2009, als sie in Hanekes "Das weiße Band" spielte, später in TV-Serien wie "Babylon Berlin" oder "The Crown", jüngst in den TV-Serien "In 80 Tagen um Die Welt" und "Der Schwarm". Mit wenigen Zuckungen schafft sie Figuren, die im Gedächtnis bleiben.
Es ist ein Horror des erzwungenen und gelernten geheuchelten Verständnisses, mit dem man den anderen über den Tisch ziehen, die eigene Haut retten, sich meistens nur vor Überstunden bewahren will. Hauptsache, man braucht nicht aufwändig reden miteinander. Stephen King würde aus dem Stoff einen seiner besseren Romane machen, indem er die Geschichte nur ein klein wenig schärfer drehte, dem Ungeist, der durch die Gänge schwebt, ein Gesicht geben würde. Bei İlker Çatak bekommt der Ungeist keinen Namen. Bei ihm funktioniert das Grauen auch ohne Übernatürliches.
Mit strenger Komposition von Bild und Ton. Man sieht seinem Film an, dass sich Çatak über ein paar Euro mehr Produktionsbudget gefreut hätte, um tatsächlich für jede Aufnahme die zeitraubenden Stativ oder Kameradolly einsetzen zu können, um durchweg ruhige Aufnahmen zu bekommen. Bei schnell eingerichteten Großaufnahmen zittert die Kamera, als handele es sich hier um eine ARD-Degeto-Produktion für den Donnerstagabend. Zitternde Bilder suggerieren dem Zuschauer, dass auch bei intensivster Spannung die Situation nie hoffnungslos ist, weil hinter dem spannenden Geschehen immer noch ein Kamerateam anwesend ist. Den Gesamteindruck des Films schmälert das letztlich nicht, meistens schafft es das Filmteam, unsichtbar zu bleiben.
Unterstützt wird es da vom Score. Marvin Miller legt mit einzelnen gezupften Geigensaiten einen Minimalismus an den Tag, der vom ersten Bild an die Aufmerksamkeit des Zuschauers bindet, ihn an die junge Lehrerin fesselt, die wir während eines Telefonats kennenlernen, konzentriert in eine Ecke des lärmenden Lehrerzimmers geduckt, schließlich notiert sie sich eine Telefonnummer auf die Handinnenfläche, weil sie keinen Zettel findet. Kurzbeschreibung: Unprätentiös.
In der nächsten Szene ist sie Teil einer Lehrergruppe, die zwei Schüler einvernimmt, weil es an der Schule mehrere Diebstähle gegeben hat. Wir erfahren nicht genau, was für Diebstähle, sehen aber, wie abgebrühte Lehrer zwei junge Schüler mit viel Verständnis-Blabla dazu bringen wollen, Schulkameraden zu denunzieren – „Das Ganze ist freiwillig, aber wenn man nichts zu verbergen hat, hast Du nichts zu befürchten.“ – und sehen das Erschrecken darüber in Leonie Beneschs Augen, die die Augen der jungen Lehrerin sind. Frau Novak sucht immer die Augenhöhe zu ihren Schülerinnen und Schülern, über die sie konsequent als „Schüler*innen“ spricht. In der nächsten Szene werden wir fasziniert Zeuge, wie sie eine Klasse voller 12, 13-jähriger Schüler – „Flegelalter“ nannten das meine Eltern in den 1970ern – in den Griff bekommt mit klaren Ritualen, denen die Schüler*innen willig folgen, weil sie der Lehrerin vertrauen. Die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler, die die Schulklasse füllen, hätten jede/r eine Extraerwähnung verdient, so natürlich ist ihr Spiel, so lebendig ihre Sprache; da ist nichts Künstliches, keine auf Teenie-Sprech gedrechselten Wortkaskaden. Die Kinder wirken, als seien sie ein realer Klassenverbund. Großartig.
Der Film zeigt nicht, wie die anderen Lehrer mit ihren Klassen umgehen – konsequenterweise sehen wir in diesem Film überhaupt keine anderen Schüler als die der Frau Novak –, aber der Enthusiasmus und die Beliebtheit der Carla Novak kommt im Lehrerzimmer nur so semi-gut an. Hier herrschen die einstudierten Rituale der Erwachsenen untereinander, lächelnde Kinderversteher, die vor allem verstehen, dass diese Kinder erst noch kapieren müssen, wer in der Schule – und also der Welt – das Sagen hat.
Aber da hat Carla Novak das wohl sortierte Kartenhaus schon auseinandergenommen, nachdem sie die Schulsekretärin als die lang und viel gesuchte Diebin – allerdings nur unzureichend, denn man sieht auf einem Video eines Diebstahls nur einen auffallend gelbgeblümten Ärmel, aber kein Gesicht – entlarvt hat, deren schüchterner Sohn in Novaks Mathematikklasse der Beste ist, zu dem Novak verzweifelt versucht durchzudringen. Jetzt stoßen Was-sagen-die-Eltern-Was-wird-die-Schulbehörde-sagen-Wir-können-uns-keinen-weiteren-Lehrerausfall-leisten-Sager auf die Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts, in der auf der anderen Seite Schüler die manipulative Kraft der Presse und der Fake News – Schülerzeitung – für ihre Zwecke entdecken. Während da also alle eine Agenda verfolgen bleibt die fassungslose Frau Novak, die einfach nur Kinder auf deren Weg ins Leben begleiten wollte, auf der Strecke.
Nichts an diesem Film ist wirklich neu. Die strenge – und dadurch sehr wirksame – Bildkomposition gab es schon bei Stanley Kubrick in den 1960er Jahren, den minimalistischen und dadurch unter der Haut wirkenden Score hat gerade erst Volker Bertelmann in der Neufassung von Im Westen nichts Neues (2022) zu neuen Blüten geführt. Die Eifersucht einer in Ritualen erstarrten Gesellschaft auf neue Ideen ist Triebfeder jeder Literatur. Aber so gesehen hätten wir die Entwicklung des Kinos ja auch schon in den 1940er Jahren einstellen können.
"Das Lehrerzimmer" wirft einen intensiven Blick auf das Machtgefüge. Der Film hat keine schlummerige Lösung für den abschließenden Rotwein in der Bar vor dem Schlafengehen. Denkt man "Das Lehrerzimmer" konsequent zu Ende, dann war es das mit unserer Gesellschaft. Wir haben uns zwischen Gesetzen, Vorschriften, woken Befindlichkeiten und Triggerwarnungen zu Tode geschmust.