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Plakatmotiv: Kehraus (1983)

Ein kafkaesker Blick in die Welt
des Shareholder-Value-Konzerns

Titel Kehraus
Drehbuch Hanns Christian Müller & Gerhard Polt & Carlo Fedier
Regie Hanns Christian Müller, BRD 1983
Darsteller
Gerhard Polt, Gisela Schneeberger, Nikolaus Paryla, Dieter Hildebrandt, Jochen Busse, Hans-Günter Martens, Karl Obermayr, Veronika Faber, Hans Stadtmüller, Peter Welz, Wolfgang Gropper, Hansi Jochmann, Bruno Jonas, Helena Rosenkranz, Ursula Soremba u.a.
Genre Drama, Komödie
Filmlänge 88 Minuten
Deutschlandstart
11. November 1983
Inhalt

Der Versicherungsvertreter Arno von Mehling schwatzt dem Gabelstaplerfahrer Ferdinand Weitel ausgerechnet am Rosenmontag überflüssige Versicherungen auf. Schockiert stellt der Arbeiter später fest, dass diese Policen fast die Hälfte seines Nettogehalts ausmachen.

Er macht bei Frau Waguscheit, einer Angestellten der Versicherung mit dem Namen "Fidelitas", einen Termin aus, um einige der Versicherungen wieder loszukriegen. Er soll morgen vorbeikommen. Am Faschingsdienstag trifft Weitel ausschließlich auf Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die alles andere als Arbeiten im Sinn haben. Herr von Mehling, der auf seine Provision angewiesen ist, versucht Herrn Weitel konsequent aus dem Weg zu gehen. Keiner im sechsten Stock der Firma weiß allerdings, dass sie alle schon längere Zeit vom Vorstand mithilfe von Überwachungskameras beobachtet werden, mit dem Ziel etliche Mitarbeiter zu feuern, um Kosten einzusparen.

Die Sekretärin Annerose Waguscheit nimmt sich des herumirrenden Weitel an und steuert ihn auf dem hausinternen Faschingsball geschickt durch das Chaos aus Bier, Schampus und Schnaps, aus Intrige und Wollust, bis es nicht nur zur Konfrontation zwischen ihm und Mehling, sondern auch zur explosiven Auseinandersetzung zwischen Chefetage und Mittelbau kommt …

Was zu sagen wäre

Nach diesem Film ist gesellschaftlich ein schwarzes Loch. Es geht um Fasching. Es geht um Frohsinn. Es geht um Versicherungen, die mich vor Unbill bewahren sollen. Aber wenn ich das Kino verlasse, will ich davon nichts mehr wissen. Wenn ich das Kino nach diesem Film verlasse, weiß ich: Ich muss nochmal ganz von vorne nachdenken. Das ist nicht unbedingt ein Grund, ins Kino zu gehen, wenn man danach existenzielle Fragen stellt, die den eigenen Alltag auf den Kopf stellen. Aber das soll Kunst ja gerade leisten: mich durchschütteln, mein Leben in Frage stellen. Ein beißender, ätzend komischer Sozialreport aus dem Milieu der Angestellten, über Menschen im Dampfkessel der Hierarchien. „Im ganzen Haus macht sich ein gewisser Fatalismus bemerkbar“, sagt einer der Vorstände, „bei der Erkenntnis, Leistung schützt nicht vor Kündigung.

Es gibt am Ende so etwas wie eine Liebesgeschichte, die mich – dann doch noch – mit einem wohligen Gefühl aus dem Kino entlassen soll. Aber da habe ich davor schon in die existenziellen Abgründe der Arbeitnehmerwelt geschaut, aus der es kein kein Entkommen gibt. Nicht mal für die Führungskräfte. Verzweifelt rennt Gabelstapler Weitel an einem Faschingsdienstag kafkaesk seinem Geld hinterher, während die Angestellten und Manager des Konzerns nur Feiern im Sinn haben. Natürlich geht es auch ihnen an den Kragen, das ist die Logik in diesem Sittengemälde. In Hanns Christian Müllers Kino sind alle Menschen Opfer und Täter. Die Vorstände ebenso wie die Saalordner der Faschingsparty oder die Mitarbeiter der Fidelitas-Versicherung. Die Vorstände können zwar mit einem geliehenen Kugelschreiber als Leistungsschwach erkannte Karrieren zerstören, stranden dann aber im nächtlichen Leerlauf, weil sie im nächtlichen Faschingstreiben kein Taxi bekommen. Die Saalordner sehen sich Schicksal ergeben als Spielball der Vorgesetzten und keilen also gegen jene, die keine Freunde haben.

Auf dem Höhepunkt des fastnächtlichen Trubels greifen sich die Saalordner einen Karnevalisten, der nur Wasser trinkt und einen langweiligen Plastikbecher auf dem Kopf seine Verkleidung nennt und prügeln ihn windelweich; eben, weil er nicht faschingskonform Helau ruft. Gleichzeitig werten die Chefs auf der obersten Führungsebene illegale Überwachungsvideos aus und feuern, bevor sie auf dem verbandseigenen Ball die Titten der Sekretärinnen kneten, die wehrlosen Bürokräfte, deren Tage ihren Tiefpunkt beim Blick auf die Speisekarte der Kantine erreichen. Die Verkäufer der verschiedenen Versicherungen scheren sich nicht um die Menschen, denen sie ihre Versicherungen aufschwatzen, es lebe die Provision; und im Großraumbüro stellen sie sich gegenseitig ein Bein. "Kehraus" ist eine Komödie aus lauter kleinen Tragödien.

Das Schlimme ist: Im Kinosessel gibt es kein Mitleid für die geschassten Bürokräfte. In dieser beinharten Gesellschaftskritik über die Ohnmacht des kleinen Mannes gegenüber einer profitorientierten Bürokratie gibt es, bis auf die Gerhard-Polt- und die Gisela-Schneeberger-Rolle, nur Arschlöcher. Das Wunderbare: Aus der Perspektive des Zuschauers im Kinosessel trifft es ausschließlich die Richtigen. Hanns Christian Müller und sein Kameramann James Jacobs fangen das verlogene Faschingsgehabe in Blau schimmernder Kälte ein, in ziellos umher schweifenden Bildern, die ziellos nach Frohsinn suchend umher schweifenden Besoffenen folgt; die Bürokräfte der – in diesem Film – zentralen "Fidelitas" erfreuen sich an bürointernen Streichen und weinen einsam Tränen der Verzweiflung auf dem Klo im Untergeschoss.

Wertung: 9 von 9 D-Mark
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