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Plakatmotiv: Und morgen die ganze Welt (2020)

Drama mit entschiedener Haltung, die
jeder Zuschauer für sich finden muss

Titel Und morgen die ganze Welt
Drehbuch Julia von Heinz & John Quester
Regie Julia von Heinz, Deutschland, Frankreich 2020
Darsteller

Mala Emde, Luisa-Céline Gaffron, Noah Saavedra, Tonio Schneider, Andreas Lust, Nadine Sauter, Ivy Lißack, Hussein Eliraqui, Eddie Irle, Frederik Bott, Constanze Weinig, Robert Besta, Victoria Trauttmansdorff, Michael Wittenborn, Noah Saavedra, Tonio Schneider, Heidi Walcher, Stefan Einfalt, Christopher Hans u.a.

Genre Drama, Crime
Filmlänge 111 Minuten
Deutschlandstart
01. März 2021
Inhalt

Luisa ist eine junge Mannheimer Jurastudentin aus einer wohlhabenden Familie. In Deutschland kommt es zu einem Rechtsruck, es finden Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und gewaltsame Übergriffe statt. Rechte Parteien, wie die "Liste 14" finden zunehmend Akzeptanz in der Bevölkerung. Luisa will dabei nicht tatenlos zusehen, sondern etwas dagegen unternehmen. Daher schließt sie sich einer Antifa-Gruppe an, in der sich ihre Freundin Batte engagiert.

Zu den Mitgliedern der Gruppe gehören auch Alfa und Lenor. Sie möchten militant gegen Rechtsextreme vorgehen und deren Aufmärsche verhindern. Auch für Luisa wird Gewalt zunehmend ein akzeptables Mittel …

Was zu sagen wäre

Und plötzlich steckt man als Zuschauer mitten in dieser Diskussion: Wo stehst Du? Wie positionierst Du Dich? Bei Brecht heißt es „Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Luisa sitzt in der Vorlesung, als dieses Thema behandelt wird, das im Wortlaut so in der Verfassung verankert ist: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ (Art.20, Abs 1-4, Grundgesetz). Der Dozent fragt, ab wann dieser Artikel denn wohl greife und die Studenten sind sich einig, wenn alle rechtlichen Mittel bereits ausgehebelt sind. Nur ein Student ist heftig dagegen, ist der Überzeugung, dass „staatliche Behörden Grundrechte missachten, so wie jetzt. Das Recht der deutschen Bevölkerung auf ein Leben in Sicherheit. Schutz vor illegaler Einwanderung.“ Während der Tumult in der Vorlesung daraufhin groß ist, bekommt der Zuschauer gleich mal klar gemacht, wo hier die Fronten verlaufen und wie sich beide Seiten auf bestehende Gesetze berufen. Das ist ja eine Diskussion, die zurzeit fast täglich in den Medien geführt wird, besonders heftig in den Sozialen Medien.

Das ist die Position, die Autorin und Regisseurin Julia von Heinz für ihren Film gewählt hat: Sie bleibt dazwischen, überlässt es den Zuschauern zu entscheiden, wohin sie Luisa am Ende abbiegen sehen; in den bewaffneten Widerstand oder zum Studium. Kamerafrau Daniela Knapp bleibt mit der pulsierenden Kamera nah bei der Hauptfigur Luisa, lässt die Zuschauer sehen und erleben, was Luisa sieht. Mit einer Lösung wird uns der Film nicht befriedigen.

Luisas Weg wird plakativ erzählt. Tochter aus gehobenem Haus, Vater Jägersmann, Luisa war immer die beste Schützin unter den Jägern, sie weidet erlegte Tiere artgerecht aus, ist selber mittlerweile Vegetarierin. Das Verhältnis zu ihren Eltern, die halb belustigt, halb stolz zur Kenntnis nehmen, dass ihre Tochter jetzt in einer Kommune lebt – „Freier Sex und abends Gruppensitzung.“ – ist entspannt und wird nicht weiter beleuchtet. Sie lebt jetzt in einem von der Antifa besetzten Haus in Mannheim, will etwas für Flüchtlinge tun und gegen den Rechtsruck. Auf ihrer ersten Demo gegen Rechts klaut sie einem Ordner dessen Handy und wird von dem daraufhin brutal angegangen und verletzt. Das wird beinah skizzenhaft erzählt, kein dramaturgischer Bogen, aber Eindrücke. Die Regisseurin war in ihrer Jugend selbst zehn Jahre in der Antifa, weiß also, wovon sie erzählt. In der Folge bezweifelt Luisa zunehmend den Sinn in langem Studium der Gesetzestexte und radikalisiert sich mit zwei Jungs und bald schon haben sie von einer rechten Zelle Sprengstoff erbeutet. Und wissen nun nicht mehr weiter. Sprengstoff? „Dafür fehlt uns die Organistaion.“ Zumal plötzlich die Polizei ihre friedliche Kommune und andere Einrichtungen der Antifa durchsucht und Leute festnimmt.

Die drei sind überzeugt, dass die Polizeirazzia mit dem erbeuteten Sprengstoff zusammenhängen: „Die geben keine Ruhe, bis die das Zeug haben.“ Gibt es Verbindungen von der Polizei zu den rechten Terrorzellen? War die rechte Zelle ein V-Mann des Verfassungsschutzes? Die junge Frau aus gutem Hause sieht sich plötzlich vor einem Schritt, der sie für Jahre ins Gefängnis bringen kann. Muss sie dennoch Widerstand leisten? Im Sinne von Artikel 20 GG, wenn Staatsorgane dem rechten Treiben nur zusehen?

Fragen, die der Film nicht beantwortet. Das fördert das diffuse Gefühl der Beklemmung, das sich im realen Leben nach Meldungen einschleicht, wenn innerhalb der Polizei Nazipropagandisten entdeckt werden, oder im Garten eines KSK-Mannes Hunderte Schuss Munition ausgegraben wurden. Bröckelt da schon die in Artikel 20 beschriebene Ordnung? Ist die Pflicht zum Widerstand schon gegeben? Und gegen wen?

Auftritt Dietmar. Der war im bewaffneten „Kampf gegen das Schweinesystem“ in den 1980er Jahren, saß dafür lange im Gefängnis und lebt heute alleine im Häuschen des toten Vaters. Rebellion? Vorbei. Die Kumpels von einst? Heute Anwälte, Journalisten, Politiker. Dietmar, den Andreas Lust mit der Melancholie des Gescheiterten spielt, personifiziert das Ergebnis bewaffneten Widerstands in Nachkriegsdeutschland: Er führt zu viel zu wenig. Aber damals gab es ja noch die klaren Gegner, da das „Schweinesystem“, hier wir. Aber heute? Da die rechten Faschisten, hier die linke Antifa? Die Antifa in von Heinzes Film weiß ja nicht mal selbst, was und wie sie sein will, ist zersplittert in lauter Grüppchen, von denen jede ihr Süppchen kocht. Lauter Partikularinteressen stehen gegen lauter andere Partikularinteressen.

Luisa ist Anfang 20, mit ihren Freunden in einem besetzten Mannheimer Zentrum gibt es regelmäßig Party, es werden Supermarkt-Mülltonnen mit Lebensmitteln geplündert und friedliche Aktionen gegen Rechts vorbereitet – streng basisdemokratisch. In diesem Alter schaut man leidenschaftlich auf die Welt, ist mittendrin und will Veränderung; als Luisa bei ihrer ersten Demo verprügelt wird, pulst ihr sichtbar das Adrenalin durch den Körper, die Lust, es den Faschos ordentlich zu zeigen. Brodelndes Testosteron, das sie bis zum Ende des Films nicht mehr loslassen wird. Mala Emde ("Lara" – 2019; 303 – 2018) spielt das mit großem Ernst. In ihrem Spiel ist kein Platz für Spaß, für ironische Distanz, sie verschwindet hinter der Rolle der Luisa, deren Weg offen bleibt. So kriecht das Drama unter die Haut, zwingt zur Positionierung. Fiktion und Realität vermischen sich im Kopf des Zuschauers. 

Wertung: 6 von 8 €uro
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