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Plakatmotiv: Der Schlachter (1970)

Ein liebenswertes Dorf.
Ein ungewöhnlicher Film.

Titel Der Schlachter
(Le boucher)
Drehbuch Claude Chabrol
Regie Claude Chabrol, Frankreich, Italien 1970
Darsteller

Stéphane Audran, Jean Yanne, Antonio Passalia, Pascal Ferone, Mario Beccara, William Guérault, Roger Rudel u.a.

Genre Drama, Thriller
Filmlänge 93 Minuten
Deutschlandstart
17. Mai 1974
Inhalt

Auf einem sommerlichen Schulausflug macht die Lehrerin Hélène eine grauenvolle Entdeckung: Am Wegesrand findet sie eine Frauenleiche und direkt daneben jenes Feuerzeug, das sie kürzlich Popaul Thomas geschenkt hatte, einem Fleischer, den sie auf der Hochzeit eines Kollegen kennen gelernt hatte.

Sie gerät in Panik: Ist der sympathische Schlachter jener grausame Frauenmörder, der seit geraumer Zeit gesucht wird …

Was zu sagen wäre

Eine kleine Stadt im Perigord, bevölkert mit freundlichen Menschen, Bauern, Bäckersfrauen, Kindern, Lehrerinnen. Und offenbar einem Mörder, der junge Frauen absticht, drei sind es bald. Das ist natürlich Gesprächsthema im Dorf, schon, weil jetzt dauernd die Polizei durch die Straßen fährt und ein verzweifelter Commissaire ratlos auf dem Dorfplatz steht, weil er bei seinen Ermittlungen keinen Schritt weiterkommt. Das Leben im Dorf beeinflussen die Morde nicht. Die Kinder kommen weiterhin zahlreich zum Unterricht bei Mademoiselle Hélène, wie sie von allen gerufen wird, und die jungen Frauen im Ort, immerhin potenzielle künftige Opfer, verstecken sich auch nicht.

Claude Chabrol hat einen Thriller gedreht, ohne die gängigen, vor allem aus dem amerikanischen Kino bekannten Elemente zu nutzen. Keine grelle Musik, keine hektische Bildschnitte, keine um die Ecke lugende Kamera, keine grausamen Details. Chabrols Form des Thrills schleicht sich über die Banalitäten des Alltags in den Film. Er beginnt mit einer Hochzeitsfeier, das Gelage ist in vollem Gange, der Brautvater begrüßt das neue Familienmitglied mit bemühten Witzen, die nach reichlich Weinkonsum gerade so zünden, der örtliche Metzger schneidet den Braten auf und flirtet mit Mademoiselle Hélène; er ist ein bisschen vulgär und erzählt zu viel von den vielen Leichen, die er in 15 scheußlichen Jahren beim Militär im Algerienkrieg und im Indochinakrieg gesehen hat. Aber alles in allem erleben wir da eine Feier, die in ihrer ganzen Durchschnittlichkeit auch unsere Feier sein könnte, Mademoiselle Hélène ist freundlich interessiert, keineswegs abgestoßen von den Erzählungen. Nach der Feier begleitet Popaul, der Metzger, Hélène bis vor ihre Haustür. Plakatmotiv (Fr.): Le Boucher (1970)Er begleitet sie durch das ganze Dorf. Chabrol zeigt diesen langen Spaziergang mit Dialogen über Krieg und Schule ohne Bildschnitt, seine Kamera fährt die ganze Zeit rückwärts vor dem Paar her – aus dem kein Paar werden wird; Mademoiselle hat das schnell ausgeschlossen und Popaul so akzeptiert.

Eine Tote gibt es noch nicht, dabei ist der Film da schon eine halbe Stunde alt. Bemerkenswerterweise passiert zwar nichts, gleichzeitig aber passiert eine Menge. Wir sind gerne dabei, wenn Popaul Hélène eine besonders schöne Fleischkeule schenkt, die, in Papier eingewickelt, aussieht, wie ein Blumenstrauß, oder wenn Hélène Brot in der Bäckerei kauft oder mit den Nachbarn schwatzt. Die Landschaft ist schön, das Setting gemütlich – gedreht wurde in der kleinen, im Périgord gelegenen Ortschaft Trémolat – und die Bewohner freundlich und zugewandt; Mademoiselle Hélène haben sie, als sie vor zehn Jahren hier auftauchte, gerne in ihre Mitte genommen. Immer perfekt gekleidet und frisiert, erscheint Hélène heiter und ausgeglichen. Sie folgt der gesellschaftlichen Erwartung an unverheiratete Lehrerinnen, bricht aber auch Konventionen: Sie raucht auf der Dorfstraße und pflegt in Folge offen freundschaftlichen Verkehr mit einem Mann, ohne dass die Dorfgemeinschaft das übelzunehmen scheint. Der in sich ruhende Film wirkt, wie ein Dokumentarfilm Leben im Perigord, in dem die vermehrt auftretenden Polizisten wie eine kleine Abwechslung vom Alltag wirken.

Die zweite Leiche findet Hélène selbst und das ist plötzlich eine gruslige Szene. Während einer Imbisspause auf einem Schulausflug tropft einer der Schülerinnen Blut auf ihr Käsebrot. Es kommt aus einer leblosen Hand, die oben über eine Felsenküste ragt. Auch in dieser Situation ergeht sich Chabrol nicht in schriller Musik und plötzlicher Hektik. Nachdem er uns Zuschauer so in das freundliche Dorfleben eingemeindet hat, reicht die Situation, die das krasse Gegenteil des bisher Erlebten zeigt, vollkommen aus. Von nun an leben wir in ständiger Anspannung, wenn der weiterhin freundliche Popaul bei Hélène antichambriert, vom dem die (und damit wir) annehmen muss, er sei der Täter.

"Der Schlachter" ist ein kleines Kunstwerk aus Bildern und Charakteren, ruhig und ausgeglichen. Ich könnte jetzt nicht sagen, dass ich mir vor Angst die Fingernägel abgebissen hätte, gar nicht. Stattdessen erlebe eine Gesellschaft, die durch Umstände kurzzeitig aus der bahn geworfen wird. Was Popaul eigentlich bei seinen Morden antreibt, bleibt vordergründig offen, er sei wie getrieben, sagt er und dann könne er einfach gar nicht anders als zuzustechen. Man darf vermuten, dass er die traumatischen Kriegserlebnisse nicht verarbeitet hat, so oft, wie er davon berichtet, vom Anblick aufeinander gestapelter abgeschlagener Köpfe und der zugerichteten Körper dahin geschlachteter junger und alter Vietnamesinnen: „Kameraden von mir sind einfach in der Sonne verfault.

Chabrol präsentiert das Porträt eines Dorfes – und damit der Gesellschaft – und erzählt darin von unverarbeiteten Traumata und eine vorsichtig tastende Liebesgeschichte. Ein ungewöhnlicher, schöner Film.

Wertung: 7 von 9 D-Mark
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