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Rührendes Pott-Portrait
mit Gänsehautmomenten

Titel Der Junge muss an die frische Luft
Regie , 2018
Darsteller

Julius Weckauf, Luise Heyer, Sönke Möhring, Joachim Król, Ursula Werner, Hedi Kriegeskotte, Rudolf Kowalski, Maren Kroymann, Diana Amft, Elena Uhlig, Birge Schade, Nicholas Bodeux u.a.

Genre Biografie, Drama
Filmlänge 100 Minuten
Deutschlandstart
25. Dezember 2018
Inhalt

Recklinghausen, Ruhrgebiet, Anfang der 1970er Jahre: Die Familie des achtjährigen Hans-Peter Kerkeling zieht vom ländlichen Teil Recklinghausens, wo sie bei den väterlichen Großeltern gelebt hat, in das Haus der mütterlichen Großeltern im Nordviertel der Stadt. Hier betreibt Oma Änne einen Tante-Emma-Laden. Dort beobachtet und belauscht Hans-Peter die Klatsch- und Tratschgeschichten der Kunden und spielt sie später seiner Oma als Komödie vor. Auch seine Familie bringt er mit seinen Parodien auf Menschen aus dem Umfeld oder Prominenten aus dem Fernsehen zum Lachen. Sein Vater ist Schreiner und häufig länger auf Montage, und dann lasten Hausarbeit und Erziehung von Hans-Peter und seinem großen Bruder Matthes auf seiner Mutter Margret, die sich oft überfordert und einsam fühlt.

Oma Änne kauft ihren Enkelkindern ein Pferd samt Kutsche und Stall. Hans-Peter ist ein unsportliches, moppeliges Kind. Als er es beim ersten Mal Reiten auch mit Hilfestellung nicht richtig herum auf sein Pferd schafft, beschließt er, seine Ungeschicklichkeit komödiantisch einzusetzen. Er reitet einfach ein paar Runden falsch herum sitzend und belustigt so die ganze Familie.

Das Zusammenleben der Großfamilie mit Großeltern, Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen ist nicht reibungslos, aber geprägt durch menschliche Wärme und Zusammenhalt, was bei den ausgelassenen und ausschweifenden Familienfeiern zum Ausdruck kommt. Beide Großeltern und besonders die beiden Großmütter kümmern sich liebevoll um die Erziehung des Jungen. Sie sind Bezugspersonen und emotionale Stütze für Hans-Peter. Als er bei einer Karnevalsfeier als Prinzessin verkleidet erscheint, verdrehen einige amüsiert die Augen, aber Oma Bertha erklärt resolut: „Hans-Peter bleibt eben Junggeselle! Und nun ist Schluss!“ Oma Änne sagt ihm kurz vor ihrem Tod eine große Karriere voraus.

Nach einer unglücklich verlaufenen Kieferhöhlenoperation, durch die sie Geruchs- und Geschmackssinn verliert, verschlechtert sich der Gesundheitszustand der Mutter, ihre psychischen Probleme verstärken sich, und sie verfällt immer häufiger in Depressionen. Nur noch selten gelingt es Hans-Peter, sie mit seinen Späßen aufzuheitern. In dieser bedrückenden Situation beschließt sein Opa, „Der Junge muss mal an die frische Luft!“, mit Hans-Peter zu verreisen. Beide verleben zusammen zwei unbeschwerte Wochen in den Bergen. Der Zustand der Mutter hat sich währenddessen weiter verschlechtert, einen Klinikaufenthalt lehnt sie jedoch ab.

Eines Abends begeht seine Mutter – gesundheitlich geschwächt und zermürbt von ihren depressiven Zuständen – mit einem Medikamentenmix Selbstmord. Sie verliert das Bewusstsein, während der ahnungslose Hans-Peter neben ihr im Bett einschläft …

Was zu sagen wäre

Ein Familiendrama als Kammerspiel mit komödiantischem Einschlag. Caroline Link, seit ihrem Oscar (Fremdsprachiger Film) für Nirgendwo in Afrika (2001) sowas wie eine Säulenheilige des deutschen Films, verfilmt die Biografie eines Säulenheiligen der deutschen Fernsehunterhaltung, Hans-Peter "HaPe" Kerkeling. Schön isset jeworden, möchte man im passenden Dialekt sagen; vor allem für Kerkelings Zeitgenossen. Eine spannende, abwechslungsreiche Geschichte erzählt der Film nicht. Aber versammelt die Haute Volée des deutschen, speziell des rheinisch-westfälischen Schauspieladels, dem das Zusammenspiel sichtlich Spaß gemacht hat; vor allem in den depressiven Momenten der Biografie.

Beeindruckend in der Riege der Namhaften spielt sich der noch Namenlose ins Zentrum, der elf Jahre alte Julius Weckauf als Pummel mit Dialekt, der mühelos zwischen Komik und Trauer balanciert, sich mit präzisen Beobachtungen in die Herzen der Ruhrpottfamilie charmt, die – bei aller Auseinandersetzung – zusammenhält wie Pech und Schwefel. Vor allem Omma Bertha hat den Jungen ins Herz geschlossen; Ursula Werner gibt ihr souveräne Statur, unverbrüchlich. „Es ist wichtig, dass man immer weitergeht“, gibt sie ihm mit auf den Weg. „So wie Oppa Willi nach dem Krieg. Auch wenn es schwer fällt. Weil … man kann ja nicht so genau wissen, was noch passiert. Und vielleicht kommt ja auch nochmal was richtig Schönes.“ Als Hans-Peter, der sich zwischen Grzimek und exaltierten Hitparaden-Schlagersternchen entschlossen hatte, eine Karriere auf der Bühne anzugehen, von Radio Bremen, wo er sich als Dickie Hoppenstedt in einem Loriot-Sketch beworben hatte, eine „Du bist zu jung“-Absage erhält, tröstet Omma Bertha ihn: „Na sieh ma', Hans-Peter, brauchs'e nur älter wer'n.

Ein Spannungsbogen fehlt, wie so oft bei Biopics. Der Film reiht Situationen aneinander, begleitet mit verbindenden Erklärsätzen aus dem Off, in denen Hans-Peter sich in einer neuen Schulklasse eingewöhnen, die häufige Abwesenheit des Vaters ertragen oder mit den Depressionen der Mutter umzugehen lernen muss und sich immer wieder von seinen beiden Ommas mit kräftigem Essen und Knuddeleinheiten verwöhnen lässt; oder mit einem Pferd. In der letzten Einstellung, in der sich der Junge und der echte Hape Kerkeling gegenüberstehen, wo der dann aus dem Off eher überraschungsarm bilanziert, er habe gelernt, dass er Produkt all seiner Familienmitglieder sei, da ist dann die Botschaft übervoll geliefert: Der traurige Clown, Sinnbild erfolgreicher Komödianten – Kerkelings Fröhlichkeit kommt aus tiefem Schmerz. Das hätte, wer hinschaut, auch in den 95 Minuten davor erkennen können. Aber vielleicht sollte das prominente Gesicht, um dessen Besitzer es ja die ganze Zeit geht, dann wenigstens einmal persönlich durchs Bild gehen (abgesehen von dem kurzen TV-Clip in einer Kneipe, wo Hans-Peters Kindheitsfreunde als Erwachsene über Hans-Peter als Horst Schlämmer lachen, den stellvertretenden Chefredakteur des Grevenbroicher Tagblatts).

Kanns'e gucken. Is' aber nur, weil dem Hape sein Leben drin is'. Dieselbe Geschichte, aber mit einem fiktiven Jungen, wäre als „Mut machender“ Betroffenheitsfilm auf dem Mittwoch-Spielfilmsendeplatz der ARD gelandet. Und wahrscheinlich hätte dabei auch Caroline Link nicht Regie geführt. Und wäre auch das Budget nur halb so groß gewesen. Was schade gewesen wäre. Denn nicht nur schaue ich den Typen in ihren Situationen gerne zu. Ich bin auch sehr angetan von der exakt nachgezeichneten Welt, in der der Film spielt. Das Ruhrgebiet der 1960er, 70er Jahre qualmt förmlich aus Leinwand und Lautsprecherboxen. Es ist eine Kleinbürgeridylle mit nicht feuerfesten Girlanden und Luftschlangen zu Karnevalsparties in engen Wohnzimmern, die mit dicken dunkelbraunen Möbeln vollgestellt sind, in deren Kühlschränken Milch in Plastiktüten durch Hartplastikbehälter aufrecht gehalten werden und wo die Gartenstühle mit gelben Plastikschnüren bespannt sind. In der Ausstattung stimmt jedes Detail. Am Horizont, über den Dächern der dunkelroten Klinkerhäuser, immer die rauchenden Schlote des Ruhrgebietes.

Und als Omma Marillenknödel macht, läuft mir sogar im Kinosaal das Wasser im Mund zusammen und aus den Augen raus.

Wertung: 5 von 8 €uro
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