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Plakatmotiv: Paradise (2023)

Eine düstere Parabel auf
eine kalte Gegenwart

Titel Paradise
Drehbuch Simon Amberger & Peter Kocyla & Boris Kunz
Regie Boris Kunz, Deutschland 2023
Darsteller

Kostja Ullmann, Corinna Kirchhoff, Marlene Tanczik, Iris Berben, Lisa-Marie Koroll, Lorna Ishema, Numan Acar, Alina Levshin, Tom Böttcher, Gizem Emre, Lisa Loven Kongsli, Dalila Abdallah, Simon Amberger, Zemyna Asmontaite, Jan Beller, Alida Bohnen, Aleyna Cara, Cynthia Cosima u.a.

Genre Science Fiction, Thriller
Filmlänge 117 Minuten
Deutschlandstart
27. Juli 2023 (Streaming)
Inhalt

Berlin in einigen Jahren: Das Biotech-Startup Aeon ist unter der Leitung der Gründerin Sophie Theissen zu einem milliardenschweren Konzern geworden. Das Unternehmen überträgt durch einen medizinischen Eingriff Lebensjahre von jungen Menschen an zahlungswillige Personen, die die Lebenszeitspender finanziell entschädigen. Ein Kollektiv namens "Die Adam-Gruppe" ist nicht mit Aeons Technologie einverstanden und geht aktiv und gewalttätig dagegen vor. Ihre Anführerin Lilith und ihre Gefolgsleute verüben mehrere Anschläge auf Empfänger von übertragenen Lebensjahren.

Max Toma, ein Vertreter von Aeon, überredet die Menschen, sich von ihren Jahren zu trennen. Er spricht aus eigener Erfahrung, da er fünf Jahre seines Lebens eingetauscht hat, um sein Studium zu finanzieren. Max ist überzeugter Anhänger seines Arbeitgebers und schätzt die offensichtlichen Vorteile des Altersaustausches. Durch seine Arbeit konnte er sich zusammen mit seiner Ehefrau Elena eine luxuriöse Wohnung leisten. Er ahnt nicht, dass seine Frau als Kreditbedingung 40 Jahre als Pfändung hinterlegt hat.

Als ihre Wohnung abbrennt, zahlt die Versicherung nichts, da die Ursache eine Unachtsamkeit von Elena war. Max bittet Sophie Theissen um einen Kredit, erhält jedoch nur einen minimal besseren Job, der nicht genügend Geld erbringt. Sie können also den Kredit nicht zurückzahlen und so wird Elena von den Behörden festgenommen und einer Operation bei Aeon unterzogen. Dabei werden ihr achtunddreißig Jahre entzogen.

Max will das nicht hinnehmen, verliert das Vertrauen in den von ihm so geschätzten Arbeitgeber und lernt, was wirklich hinter Elenas und seinem Schicksal steht …

Was zu sagen wäre

In den USA können Gefängnisstrafen jetzt sogar mit einer Zeitspende abgegolten werden“, argumentiert der Nachrichtenmoderator im TV-Interview mit der Anführerin der Terroristengruppe, „ist das nicht besser, als einen Straftäter jahrelang auf Kosten des Steuerzahlers einzusperren?“ Die Terroristin erwidert: „Wie wird das denn zukünftige Urteile beeinflussen, wenn lange Gefängnisaufenthalte profitabel gemacht werden?“ Der Nachrichtenmann ist in diesem Interview in dieser undefinierten Zukunft kein neutraler Journalist; er heißt Ulrich Wickert, wird gespielt von dem 82-jährigen Ulrich Wickert, der aber hier aussieht wie Anfang 40. Auch er, der in Deutschland zu den Oberen zehntausend zählt, hat die Dienste von AEON gerne in Anspruch genommen. Das Angebot von AEON ist gesellschaftlich als System anerkannt, in dem jeder nach seinen Möglichkeiten glücklich werden kann.

Dabei geriert sich AEON geschickt zwischen humanitärer Wohlanständigkeit und kaltem Kommerz, inszeniert sich Geschichte als Retter des Klimas. Jetzt, wo die Reichen und Mächtigen doch so lange leben, salbt Sophie Theissen, kümmern sie sich natürlich auch sehr darum, dass das Klima in Ordnung kommt. In einer späteren Szene sehen wir die Ostsee als gigantischen Windpark. Der Kapitalismus, suggeriert der Film, hat immer genug Vorteile, um auszublenden, dass er eigentlich untragbar ist – wie sich im weiteren Verlauf des Films eindrücklich zeigen wird.

Die einen geben ihre Lebenszeit, leben dann kürzer, verzichten auf viele Jahre eigener Entwicklung, aber können für sich und die Familie einen deutschen Pass bekommen, andere zahlen damit erdrückende Schulden ab. Auf der anderen Seite stehen die Reichen, die sich diese Lebenszeit mit ihrem Vermögen locker leisten können, eine Win-Win-Situation. Aus der Sicht der Reichen und von AEON. Die anderen leben in dieser undefinierten Zukunft in Berliner Slums, schimmeligen Behausungen und Flüchtlingslagern; im Berlin der nahen Zukunft fungiert das große Tempelhofer Feld als riesiges Flüchtlingscamp, bevölkert mit mittellosen Menschen, die eine Zukunft suchen. „Sie haben nur ihr Leben als Tauschware“, konstatiert Max, nachdem er die Seiten gewechselt hat.

Die Idee "Lebenszeit gegen Geld" gab es schon mal. 2011 erzählt Andrew Niccol in In Time von einer Gesellschaft, in der die Waren des täglichen Bedarfs mit Lebenszeit bezahlt werden – ein Kaffee für vier Minuten. Diese Perversion des Kapitalismus hat sich 12 Jahre später in "Paradise" eigentlich nur radikalisiert, also der Zeit angepasst: Gehandelt werden nur noch große Summen. Aber die Grundüberzeugung ist dieselbe. Damals wie heute hat der in der Marktwirtschaft ewig versprochene Aufstieg des Individuums nicht mit Tüchtigkeit und Fleiß des Einzelnen zu tun. Die Besitzenden wissen auch in "Paradise" sehr gut, oben zu bleiben und Richtung Unsterblichkeit zu streben und die Anderen klein zu halten. Nach diesem Film schaut man in der realen Welt ernüchtert auf die vielen Flüchtlingslager an Europas Außengrenzen und die hitzige Debatte über die Migration dringend benötigter Arbeitskräfte, die – vor allem – unseren Wohlstand sichern helfen sollen: Was heute Arbeitskraft heißt, heißt morgen vielleicht schon Lebenszeit.

Max profitiert von diesem System, hat selbst ein Paar Jahre Lebenszeit für sein Studium investiert und arbeitet jetzt auf mittlerer Ebene erfolgreich im AEON-Konzern. Die Leute von der "Adam-Gruppe", die Empfänger von Lebenszeit gnadenlos erschießen, sind auch in seinen Augen (die die Augen des Zuschauers sind) Terroristen. Und selbst, als seine Frau 38 Jahre verliert, ist er unschlüssig, tut natürlich alles, um diese Jahre zurückzubekommen – für sie, für ihn, „wir wollten doch Kinder“. Aber er rennt gegen das von ihm gefeierte System an und Kostja Ullmann (A Most Wanted Man – 2014; Quellen des Lebens – 2013; Schutzengel – 2012) stattet den Max mit großer Hilflosigkeit angesichts dieses Widerspruchs aus.

Die Perspektiven und Ansichten ändern sich mehrere Male. Max ist mit seiner Elena, die im Alter von der wunderbaren Corinna Kirchhoff gespielt wird, auf der Flucht nach Litauen, wo man gegen ein paar Tausender in einer illegalen Praxis Lebenszeit kaufen kann. Auch sie zweifelt, verlässt den jetzt viel jüngeren Max zunächst, folgt ihm dann widerwillig nach Litauen, übernimmt, als dann Max zweifelt, das Zepter und alles endet – Fluch der Vorgaben der großen Streaming-Dienste, die solche Filme heutzutage finanzieren – sehr blutig.

Boris Kunz zeigt eine packende Dystopie, die mit wenig Hoffnung auf die Welt schaut, die ist. Er ist wahrlich nicht der Erste, der die sozialen Schichten, Reich-Arm, Oben-Unten, Stark-Schwach, in der Zukunft sich verschärfen sieht zu einer brutalen Klassengesellschaft – aber dass andere vor ihm das schon erzählt haben, zeigt ja nur, dass dieses Problem über die Jahre nicht kleiner geworden ist. Kunz hat einen mitreißenden Ansatz für seine dunkle Zukunftsvision gefunden, in dem ein kleiner Schönheitsfehler wohl ist, dass da einer für 15 Jahre Lebenszeit lediglich 700.000 Euro erhält, eine Summe, die heute schon wenig wäre für so viele Jahre, aber in dieser nicht definierten Zukunft sicher noch viel weniger sein wird.

Wertung: 6 von 8 €uro
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