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Plakatmotiv: Atlas (2019)

Wortkarg, Bildkarg. Aber
ein beeindruckender Kinofilm

Titel Atlas
Drehbuch David Nawrath + Paul Salisbury
Regie David Nawrath, Deutschland 2018
Darsteller

Rainer Bock, Albrecht Schuch, Uwe Preuss, Thorsten Merten, Roman Kanonik, Nina Gummich, Masi Aziz, Zübeyde Bulut, Andrej Kaminsky, Sasun Sayan, Serdar Thenk Yildiz u.a.

Genre Drama
Filmlänge 99 Minuten
Deutschlandstart
24. April 2019
Website pandorafilm.de/filme/atlas.html
Inhalt

Eigentlich ist es für Möbelpacker Walter Scholl ein Job wie jeder andere, als er mit seinen Kollegen anrückt, um eine Wohnung in einem Altbau zwangszuräumen. Unter all seinen Kollegen ist Walter trotz der Schmerzen, die ihm dieser Knochenjob bereitet, der loyalste Mitarbeiter.

Sein Chef Roland Grone hat sich nämlich auf einen Deal mit einem dubiosen Klan eingelassen: Er kauft Häuser mit dem Geld der Afsaris, vertreibt die Mieter – notfalls auch mit Gewalt –, und verkauft die leeren Häuser dann weiter. Doch bei einem Auftrag, bei dem sich einer der letzten Mieter weigert, auszuziehen, meint der 60-jährige ehemalige Gewichtheber Walter plötzlich seinen Sohn Jan wiederzuerkennen, den er vor vielen Jahren im Stich gelassen hat.

Walter stellt außerdem fest, dass sich sein Chef auf ein gefährliches Spiel eingelassen hat und steckt nun in der Zwickmühle …

Was zu sagen wäre

In der griechischen Mythologie ist Atlas eine deprimierend tragische Figur. Einfach ausgedrückt gehörte er zu den Titanen, jenen Meta-Wesen, die den olympischen Göttern – Zeus und seiner Sippe – wieder und wieder zusetzten. Nach dem entscheidenden Kampf stand Atlas auf der Verliererseite. Und offenbar hatte Zeus Missfallen an dem titanischen Sprössling gefunden, denn er verbannte ihn nicht einfach wie all die anderen geschlagenen Titanen in den Tartaros. Atlas bekam die Aufgabe, am westlichen Rand der Erde zu stehen und Uranos daran zu hindern, immer wieder auf eben jene Erde zu fallen. Das liest sich jetzt wie ein besoffenes Best-of aller Asterix-Ängste. Aber in der griechischen Mythologie wurde alles personifiziert – der westliche Rand der Erde war Gaia. Und die fühlte sich von Uranos, dem personifizierten Himmel, immer wieder bedrängt; Gaia war es – auf deutsch gesagt – einfach leid, dauernd von Uranos vergewaltigt zu werden. Genau das also sollte Atlas fürderhin verhindern, indem er für alle Ewigkeiten mit seiner Kraft den Himmel von der Erde fernhielt.

Genug der Mythologie. David Nawrath, Drehbuchautor, der hier sein Regiedebüt vorlegt, nennt diesen Film Atlas. Dazu sehen wir auf dem Kinoplakat das Gesicht von Rainer Bock, einem dieser vielen Schauspieler, den wir hundertmal in TatortSokoFernsehfilmDerWoche gesehen haben, die Nerds unter uns erinnern sich an die hässliche Figur des Arztes in Michael Hanekes "Das weiße Band", der seine Ehefrau in einer Art und Weise runtermacht, dass es einem noch Tage später in den Gliedern schlottert. Vieles trauen wir diesem Gesicht, dessen Namen wir sofort wieder vergessen, zu. Aber einen Atlas?

Nawraths Regiedebüt ist ein komplexes Stück Kino. Es erzählt von modernen, also schwierigen Familienverhältnisse. Es thematisiert die gerade sehr aktuelle, schwierige Wohnraumsituation in Ballungsgebieten. Und es erzählt von arabischen Clans, die sich in den Innenstädten festsetzen, mit illegalem Geld aus Drogen und Glücksspiel Immobilien kaufen, alteingesessene Mieter vertreiben, die daraufhin luxussanierten Immobilien weiterverkaufen und damit ihr schmutziges Geld waschen. Und das in nur knapp 100 Minuten. Das kann schnell mal schief gehen, unzählige ARD-Degeto-Projekte, die später am Mittwoch- oder Freitagabend weggesendet werden, zeugen davon.

An diesem Film haben sich der WDR und ARTE als Koproduzenten beteiligt und offenbar hatten die dortigen Redakteure mal Lust, ihren Job, ihren öffentlich-rechtlichen Auftrag ernst zu nehmen. Es ist ja nicht so, dass sich mit den hier schon geschilderten Versatzstücken nicht schönstes deutsches Betroffenheits- und Wohlfühlfernsehen gestalten ließe: Der böse Migrant wird befriedet, die kaputten Familien finden sich wieder und am Ende feiern alle in der luxussanierten Frankfurter Altbauwohnung Weihnachten.

Das passiert in "Atlas" nicht. Und doch wird was gut.

Der Schwachpunkt des Films liegt in seiner Visualisierung. Und das ist schade bei einer so guten Geschichte, die als Roman gar nicht funktionieren würde – oder nur unter zähen Mühen. Gute Filme verkaufen sich über ihre überraschende Bildgestaltung, über intelligente Montage, welche dann komplexe Handlungsstränge ins Ziel bringen. Wäre hier nicht Rainer Bock, dieser Schauspieler, den wir schon mal gesehen haben, dessen Namen wir aber immer wieder vergessen, würde der Film wahrscheinlich abstürzen. Nawrath will uns diesen Walter Scholl als einsamen Menschen vorstellen. Dazu fällt ihm visuell nur ein, dass der mehrmals im nächtlichen Linienbus nach Hause fährt, den Kopf melancholisch gegen das Fenster gelehnt. Die Möbelpackertruppe, in der er das Urgestein ist, ist wortkarg und im alles akzeptierenden Arbeitsbienen-Hauptsache-den-Job-nicht-verlieren-Modus – lauter arme Schweine also. Jede Szene ist in der Post-Production nochmal künstlich runtergekühlt worden, damit im frostigen Blaustich auch nur ja kein Schimmer Hoffnung für die fragile Welt des ungelernten Arbeiters (in der wir uns ja befinden) aufkommt.

Aber wir folgen gerne Rainer Bock als Walter. Bock trägt seinen Möbelpacker Walter mit leerem Gesicht durch die Geschichte, das es dem Zuschauer erst ermöglicht, das Drama familiärer Sprachlosigkeit in seiner ganzen Dimension zu erfassen. Das macht Bock nicht, weil er mehr nicht kann. Als er uns endlich sein Familiendrama erzählt, warum sein Sohn ihn nicht kennt und so weiter, da hält David Nawrath die Kamera einfach auf das erzählende Gesicht – und das erzählt dann, mit wenigen Worten, ganze Romane. Wir sehen diesem "Atlas" die Last, Möbel zu wuchten, ein altes Familiendrama ebenso wie ein brutales Miet"recht" zu schultern, deutlich an.

Interessanter Nebenkriegsschauplatz: Die Schurken im Stück sind, wie wir heute so schön formulieren, Migranten. Kriminelle "Ausländer" – schwierig für den aufgeklärten, feuilletonbeseelten Zuschauer. Darf man das? So pauschal? Muss man nicht differenzieren …? Prompt entwickeln wir im Kinosessel schnell einen heiligen Zorn auf diese schwarzbärtige Mörder- und Entmiet-Bande: Weg mit denen. Der Zorn kommt auch daher, weil Nawrath uns da den Spiegel vorhält. Alle Männer aus dem Möbelpackertrupp ("Biodeutsche"), zu dem ein Mitglied des kriminellen Clans stößt, lassen diesen offen gewalttätigen Typen gewähren, bloß nicht einmischen, raushalten, Ruhe haben wollen. Erst Walter mischt sich ein. Aber auch nur, weil es um seine Familie geht; jene Familie, die ihn gar nicht kennt. Und er stellt sich gegen Typen, für die Familie lediglich ein Feigenblatt ist, mit dem sie ihre kriminellen Machenschaften kaschieren.

Ein bemerkenswerter Film. An der Kinokasse wird er es schwer haben, die breite Masse eher nicht animieren, ins Kino zu gehen. Dabei ist er weder langweilig noch rutscht er auf einer Schleimspur des Kitsches aus. Der Film stellt hier Fragen und stellt dort klar. Er zeigt eine Welt, in der nicht alles gut ist, aber vieles ganz gut funktioniert, weil Menschen Menschen brauchen. Mein Kinopartner sagt: „Für solche Filme sind die öffentlich-rechtliche Medien gemacht!“ Aber die Redakteure von WDR und ARTE haben dann doch lieber noch einen Polizeistatisten eingebaut, der freundlich und hilfsbereit ist und auf den Namen "Yilmaz" hört und der auch keinen Schnauzbart trägt.

Dieser Atlas, der den Himmel von der Erde fernhält, ist mehr als die deprimierend tragische Figur. Man sollte ihn sich als ein stolzes, loyales Familienmitglied vorstellen, das damit die Welt rettet.

Wertung: 6 von 8 €uro
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