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Plakatmotiv: Zwielicht (1996)

Edward Nortons erste
Kinorolle - ein Hammer

Titel Zwielicht
(Primal Fear)
Drehbuch Steve Shagan + Ann Biderman + William Diehl
nach dem gleichnamigen Roman von William Diehl
Regie Gregory Hoblit, USA 1996
Darsteller

Richard Gere, Laura Linney, Edward Norton, John Mahoney, Alfre Woodard, Frances McDormand, Terry O'Quinn, Andre Braugher, Steven Bauer, Joe Spano, Tony Plana, Stanley Anderson, Maura Tierne, Jon Seda u.a.

Genre Thriller
Filmlänge 129 Minuten
Deutschlandstart
20. Juni 1996
Inhalt

Anwalt Martin Vail hat sich weniger der gerechten als vielmehr der eigenen Sache verschrieben. Spektakuläre Prozesse sind sein Lebenselixier – und was könnte spektakulärer sein, als die Ermordung des Erzbischofs von Chicago? Der junge und schüchterne Messdiener Aaron Stampler wird angeklagt, den Kirchenmann ermordet zu haben. Der ideale Angeklagte für Vail, um sich medienwirksam als Kämpfer gegen die Macht der Vorverurteilung in Szene zu setzen. Nach dazu, weil Staatsanwältin Janet Venable seine Ex-Geliebte ist.

Martin Vail sieht seinen Job als Verteidiger als eben dies: Verteidigung. So ist seine These, dass Aaron zwar im Raum gewesen sei (daher auch die Spuren am Tatort), er die Tat aber nicht begangen habe. Er sei ohnmächtig geworden. Vail stützt seine Verteidigung auf das fehlende Motiv. Der Erzbischof hatte Stampler quasi von der Straße geholt und war eine Art Vaterfigur für den Angeklagten.

Im Lauf der Verhandlung findet er aber doch noch ein Motiv: Auf einem Video ist zu sehen, wie der Bischof Aaron und seine Freundin zu sexuellen Handlungen zwingt. Zudem findet er mit der engagierten Psychologin Dr. Molly Arrington heraus, dass Aaron eine gespaltene Persönlichkeit ist. Aarons zweites Ich, das sich Roy nennt, hat die Tat begangen.

Er lässt das Video der Staatsanwältin Venable zukommen, die das Band gegen den Willen des Oberstaatsanwalts, der den Ruf des Verstorbenen nicht in den Dreck ziehen will, vor Gericht zeigt. Im Kreuzverhör mit dem Angeklagten greift sie Stampler stark an und will ihn zu einem Geständnis drängen. Das hätte sie nicht tun sollen ...

Was zu sagen wäre

Ein Film über das Wahr oder Unwahr, über Justizia ist eine Königsdisziplin des modernen Kinos. Dort wie hier geht es um Bilder, um Aussagen, die der Zuschauer glauben soll, aber nicht glauben muss. Im Justizthriller ist die visuelle Faktenlage per se … dünn. Davon leben Filme des Genres, und "Primal Fear" ist sowas wie ein Bestes Beispiel dafür. Übersetzt heißt der Filmtitel etwa "Die Urangst" … also in etwa die Mutter aller Ängste. Und was ist gefährlicher, als den falschen Stimmen zu glauben? Herzlich Willkommen im Herzen des Rechtsanwalts-Business! Und damit auch im Herzen eines jeden Kinofilms.

Kinofilme manipulieren. Sie lassen uns glauben, dass Raumschiffe das Universum durchqueren, dass Cowboys auf Pferden, die in gestrecktem Galopp durch die Prärie rasen, Präzisionsschüsse aus ihren Winchester-Gewehren abfeuern können, dass Streichholz kauende Sheriffs immer den Mörder finden, dass es nur eines Steve McQueen und eines Paul Newman braucht, um den Brand in einem immens hohen Hochhaus zu bezwingen. Kinofilme haben dieselbe Aufgabe, wie ein Verteidiger vor Gericht – deshalb lieben sich die beiden Genres so. Beide erschaffen eine eigene Wahrheit, indem sie Wahrheiten ignorieren. Das Kino ignoriert die Illusion, dass nur John Wayne ins Schwarze trifft. Es will nicht hören, dass es wahrscheinlicher gewesen wäre, dass das Towering Inferno McQueen und Newman verbrannt hätte. Die Wahrheit ist das, was der oder die Richterin am Ende entscheidet.

Gregory Hoblit auf dem Regiestuhl versucht, die etwas bemüht wirkende Story hinter anwaltlich erscheinenden Alltäglichkeiten zu verstecken. Zwischen all den juristisch aufgaloppierenden Jungs – Richard Gere hier, John Mahoney dort – sehen wir dann Staatsanwältin Janet Venable mal in ihrer Stammkneipe, in der sie „einen Stu, wie immer!“ bestellt, während sie mit ihrem ehemaligen Liebhaber und jetzigen Prozessgegner Martin Vail streitet. Letztlich aber bleiben das Formalien, die die Dünne des Buchs kaschieren sollen. Die Regie tut alles dafür, den Fall pro Richard Gere eindeutig erscheinen zu lassen, versteckt mangelndes Storytelling hinter grob konstruierten Effekten: Der Anwalt ist der Gute, die Staatsanwaltschaft steht mit (bösen) Bodenspekulanten im Boot.

Das funktioniert so lange gut, bis sich der Kinovorhang schließt und kein smarter Richard-Gere-Anwalt mehr auf meiner Seite kämpft, sondern mir die nächste Fußgängerampel die Grenzen meiner Bewegungsfreiheit aufzeigt. Anders gesagt: Ich sehe zu viel Inszenierung, zu wenig dramatische, nachvollziehbare Story.

Dabei bietet der Film einen starken Einstieg: Richard Gere mit anwaltlichen One-Liners für einen ergebenen Reporter („Es ist doch für eine Titelgeschichte, nicht?“), in denen er deutlich macht, dass ihn nur jene Wahrheit interessiert, die er in den Köpfen der Geschworenen erzeugen kann. Dann beginnt der Titelvorspann mit einem Score aus Chorälen. Und schon hat der Zuschauer ein Reizthema: Richard Gere ist immer der Gute contra Was redet der da für einen Kalten Scheiß? Der Film ist gerade zwei Minuten alt. Seinen Job bei der Staatsanwaltschaft hat Geres Figur geschmissen: „Ein Sackgassenjob: Da wird man am Ende leitender Staatsanwalt oder Richter. Warum Schiedsrichter werden, wenn man selber spielen kann?“ Als zentraler Satz für die folgenden zwei Stunden gilt Vails Verdikt: „Ich hasse es, wenn die andauernd drauf rumreiten, was Strafverteidiger für verdammte Hurensöhne sind. Wir sind die Bösen, weil wir immer neben einem Scheißtypen sitzen. Und dann sehen wir auch beschissen aus. Außerdem hält man den für schuldig. Man nimmt an, dass er es getan hat und dass wir es wissen. … Du weißt es nicht!!! Du fragst nicht. Es interessiert Dich nicht! Du machst Deinen verdammten Job!“ Nach einer viertel Stunde sind der Charakter und die Stoßrichtung des Dramas klar: Der Anwalt wird all diese Gewissheiten über Bord werfen.

Gregory Hoblit inszeniert die Rache-Geschichte eines aufrechten Anwalts, der die Winkelzüge der bösen Staatsanwaltschaft nicht mehr ertrug, also die Seiten wechselte und sich in der Juristerei verhedderte. Das funktioniert in einem Roman, der die Beweggründe psychologisch brillant formuliert, wunderbar; aber im Film stehen dem Erzähler nur lange Erklärszenen mit Talking Heads zur Verfügung, die sich irgendwann wiederholen – aber sobald der Zuschauer mal kurz den Faden verliert, hat er insgesamt verloren; zu viel der Worte. Tatsächlich sind wir hier nicht in einem Hörspiel; in Hoblits Film werden vor Gericht sogar die wissenschaftlichen Experten bei ihrer Zeugenaussage unterbrochen und mit Sprechverbot bedroht. Wo also bleibt das Recht des erklärenden Bildes in einem Kinofilm? Es ist ein schmaler Grad in jedem Justizdrama zwischen belanglos bebildertem Hörspiel und packend inszeniertem Drama im Gerichtssaal. "Primas Fear" bleibt auf der erstgenannten Seite. Bis es zum Film des Edward Norton wird, der grandios als Zwei-in-Einem aufspielt.

Das Kinodebüt Edward Nortons erzählt von einem Glücksfall für einen jungen Schauspieler. Für die Rolle des Aaron Stampler waren über zweitausend Schauspieler gecastet worden, unter anderem Matt Damon, Wil Wheaton und Leonardo DiCaprio. Edward Norton betrat schließlich das Vorsprechzimmer und versetzte sich 100-prozentig in seine Rolle: Er stotterte und war als unsicherer Typ so überzeugend, dass er vom Fleck weg engagiert wurde.

<Nachtrag2009>Norton sorgte auch in späteren Filmen für viel Applaus – in Woody Allens Alle sagen: I love You (1996) ebenso wie als geläuterter Neonazi in American History X (1998). Viel später übernahm er den Part des Wissenschaftlers Bruce Banner in der zweiten Hulk-Verfilmung (2008, nach den Marvel-Comics), überwarf sich dort aber mit seinen Produzenten und stieg aus den lukrativen Fortsetzungen aus.</Nachtrag2009>

Man kann dem Film vor allem wegen seiner Schauspieler gut folgen, allerdings verblasst auch Richard Gere (Der 1. Ritter – 1995; "Begegnungen" – 1994; …und das Leben geht weiter – 1993; Sommersby – 1993; Eiskalte Leidenschaft – 1992; Pretty Woman – 1990; Internal Affairs – 1990; Cotton Club – 1984; Atemlos – 1983; "Ein Offizier und Gentleman" – 1982; Ein Mann für gewisse Stunden – 1980) in der Anwalt-Rolle hinter dem komplexen Spiel Nortons. Die Machart des Films ist eher hausgemacht; die – wichtigen – Szenen vor Gericht sind ohne Kraft inszeniert. Wenn der Vorhang gefallen ist, bleibt Edward Nortons Leistung in Erinnerung.

Wertung: 7 von 10 D-Mark
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