Buchcover: Ich bin Charlotte Simmons
Ein literarischer Meister
seziert den Ivy-Campus
Titel Ich bin Charlotte Simmons
(I am Charlotte Simmons)
Autor Tom Wolfe, USA 2004
aus dem Amerikanischen von Walter Ahlers
Verlag Blessing
Ausgabe Gebunden, 790 Seiten
Genre Drama
Website tomwolfe.com
Inhalt

Applaus erfüllt den Saal, als Charlotte zum Podium hochsteigt. Gerade wurde verkündet, dass sie als Erste aus ihrem 900-Seelen-Dorf in den Blue Ridge Mountains ein Stipendium für die Dupont University, Pennsylvania, erhält. Endlich wird das hoch begabte Mädchen in den Olymp des Wissens aufgenommen.

„Charlotte, du bist dazu bestimmt, Großes zu tun”, prophezeite ihre Lehrerin. Das hübsche Mädchen ist überglücklich, endlich darf sie in das Paradies der Gelehrsamkeit ziehen. An dieser bedeutendsten Universität des Landes wird sie erstmals auf Gleichgesinnte treffen, die wie sie die Welt zu durchdringen suchen.

Doch kaum hat sie voller Idealismus ihr Studium begonnen, wird ihr klar, was an diesem Olymp des Wissens wirklich zählt: schicke Klamotten, sich bis zur Besinnungslosigkeit besaufen und natürlich Sex. In ihrer Naivität hätte Charlotte das nie für möglich gehalten, denn sie – ganz die Tochter ihrer religiösen Mutter – ist selbstverständlich noch Jungfrau.

Schon bald umwerben sie drei Männer: ein verkopfter Nerd, der die Welt revolutionieren möchte; ein Anabolika-Trottel, der einzige weiße Basketballspieler im Uni-Team; und ein auf seinen Vorteil bedachter Schönling. Charlotte erwählt den Falschen – und braucht lange, um wie ein Phönix aus der Asche ihres Selbstverlusts aufzusteigen …

aus dem Klappentext

Was zu sagen wäre
Ich bin Charlotte Simmons

Ein großartiger Schmöker. Süffig , bösartig, sarkastisch, komisch, liebevoll – menschlich. Ich war ein wenig erstaunt, dass in einem Elite-Internat wie dem Harvard-Klon „Dupont University” das Leben offenbar ausschließlich aus Suff, Sex und Sport besteht. Aber dieser Irrtum stellt sich als gewollter Reiz heraus. Am Ende bleiben die Propheten der drei großen „S” auf der Strecke oder mit gestutzten Flügeln auf den hinteren Hörsaalbänken sitzen, während unsere 18-jährige Heldin, die zu Beginn glaubte, das Leben wäre ein einzig’ Streben nach Wissen und intellektueller Erleuchtung, erst durch diesen, den anorektischen Zöglingen der Steinreichen offenbar in die Wiege gelegten Sumpf des Elite-Schmuddels waten muss, um am Ende in den vorderen Reihen der University-Gemeinschaft Platz zu nehmen.

Keine der 790 Seiten liest sich langweilig. Wolfes umfassende Recherche, deren Quellen er in den Danksagungen ausbreitet, angeführt von den semantischen Einlassungen seiner eigenen Kinder zum Thema Jugend-Sprech zu Beginn des 21. Jahrhunderts, lassen einen Kosmos erblühen, in der jede Figur nach wenigen Sätzen ein jederzeit wieder erkennbares Gesicht hat, der Campus quasi in 3D vor dem Leser liegt. Wunderbar geschrieben.

Den Höhepunkt bilden zwei Kapitel im hinteren Drittel, in denen Charlotte unten angekommen ist und in tiefe Depression verfällt. Erst das Bankett, mit dem Charlottes persönlicher Höllensturz Fahrt aufnimmt und dann Weihnachten bei der geliebten Familie in den Blue Ridge Mountains, das ein großes, fröhliches Fest sein soll, für Charlotte aber ein in dumpfe Teilnahmslosigkeit würgender Spießrutenlauf von erwartungsfroher Liebe und drückender Erwartung wird.

Nach dem brillanten „Fegefeuer der Eitelkeiten” und dem dem enttäuschenden „Ein ganzer Kerl” ist Wolfe mit „Ich bin Charlotte Simmons” auf der Höhe der Zeit. Ein Chronist seiner Zeit. Wolfe deckt nichts auf, was wir nicht schon – so oder ähnlich – ahnten (wüssten?). Er ordnet es nur ein und verknüpft die manchmal seltsam anmutenden Rituale der Jugend von heute mit der Zukunft, die sie längst umgibt. Ganz nebenbei sagt er damit nicht nur was über die anderen, die Jungen. Er sagt auch viel über die einen, die Alten. Das, was da an dieser Ivy-League-Uni passiert, passiert täglich. Überall.

Gelesen vom 29. Januar bis 6. April 2007.