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Kinoplakat: Victoria
Zelluloid auf Speed
Titel Victoria
Drehbuch Olivia Neergaard-Holm + Sebastian Schipper + Eike Frederik Schulz
Regie Sebastian Schipper, Deutschland 2015
Darsteller

Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yigit, Max Mauff, André Hennicke, Anna Lena Klenke, Hans-Ulrich Laux, Eike Frederik Schulz, Adolfo Assor, Jan Breustedt, Ambar de la Horra, Anne Düe, Daniel Fripan, Martin Goeres u.a.

Genre Drama, Crime
Filmlänge 140 Minuten
Deutschlandstart
11. Juni 2015
Inhalt

Die Spanierin Victoria lebt für drei Monate in Berlin. Am Ende einer Clubnacht trifft sie auf die vier jungen Männer „Sonne“, „Boxer“, „Blinker“ und „Fuß“, die sich ihr als „echte Berliner“ vorstellen. Auf der Suche nach Bekanntschaften, schließt sie sich den Vieren an für einen letzten Drink – es soll nicht zu spät werden, schließlich muss sie in ein paar Stunden wieder arbeiten; Victoria jobbt in einem Café.

Die Jungs und Victoria albern durch die Nacht, haben sich auf ein Hochhausdach verkrochen – einem regelmäßigen Treffpunkt der Clique. Sie erzählen sich in einer Mischung aus Deutsch und Englisch Geschichten und von Boxer erfährt man, dass er im Gefängnis war. Sonne begleitet Victoria zum Café, das sie in zwei Stunden öffnen muss. Ihr Flirten und Kennenlernen dort wird vom wieder auftauchenden Rest der Gruppe unterbrochen.

Eine Knastbekanntschaft von Boxer fordert einen Gefallen. Da Fuß zu stark alkoholisiert und nicht mehr handlungsfähig ist, wird Victoria von Sonne überzeugt, die anderen drei zu begleiten. Der Gefallen entpuppt sich als Überfall auf eine Privatbank und Victoria wird Fahrerin des gestohlenen Fluchtwagens …

Was zu sagen wäre

Ein Kameramann im Adrenalinrausch, Schauspieler im Ausnahmezustand, ein Regisseur mit Plan im Chaos - und kein Cutter. Manchmal geht das junge Kino irrsinnige Wege, um den Ausbruch aus dem immergleichen Quatschkino zu finden – weg von der Teurer-Schneller-Spektakulärer-Manier; und da werden plötzlich Bilder gut, die unscharf sind, unterbelichtet und total verwackelt. Sebastian Schippers „Victoria“ ist mitreißendes Hautnahkino.

Zum zweiten Mal in diesem Jahr – nach Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit) – erzählt uns ein Regisseur seine Geschichte in Form eines ungeschnittenen Films. Alejandro González Iñárritu hat dabei geschummelt, hat die Möglichkeiten des digitalen Filmtricks genutzt, um uns die eine Einstellung vorzugaukeln, seinen Birdman dann aber mit wohl komponierten Bildern zu erzählen.

Sebastian Schipper hat seinen Bankraubfilm in tatsächlich einer Einstellung gedreht; digital ist da nur der Speicherplatz, der das Gefilmte unfallfrei beherbergen muss. Dieses Jetzt-Zeit-Kino geht zu Lasten der Bildqualität. Aber legt man beide Filme nebeneinander, verliert Birdman plötzlich an Glanz, erscheint, schon von der Unschärfe der Erinnerung überstrahlt, ein bisschen bemüht in seinem Ansatz. Aber Filme rückwirkend zu bewerten, ist nicht zielführend.

Experiment gelungen, Zuschauer in Schweiß gebadet

Schipper hat drei Durchläufe genommen, um seinen Film zu drehen; der dritte saß dann und ist der, den wir auf der Leinwand sehen. Experiment gelungen, Kino Impuls gegeben, Zuschauer fertig. Dieser Film widersetzt sich allen antrainierten Sehgewohnheiten, er fordert die Couchpotatoe im Kinosessel auf, zu handeln. Diese Art des Erzählens nimmt dem Regisseur (und dem Zuschauer) jede Form der Verkürzung. Sie macht es auch schwer, auf irgendeine Storyline hinzuführen, lange Zeit ist gar nicht klar, worum es hier eigentlich gehen soll.

Eine Stunde lang tingeln die Figuren durchs nächtliche Berlin, auf ein Hochhausdach, in ein Café, um sich selbst, bis dann sich allmählich die Story um den Bankraub herum verdichtet. Das dauert nach allgemeingültigen Erzählmaßstäben viel zu lange. Aber das Allgemeingültige im modernen Kino ist ja eben Schippers Sache nicht. Die Situation im Café nutzt seine Protagonistin Laia Costa, um Victorias Profil zu schärfen: Tochter aus behütetem Hause, am Musikkonservatorium, keine Freunde, statt dessen Konkurrenten um die wenigen Plätze, sie hat es nicht geschafft, jetzt jobbt sie in diesem Café, steht am Rande der Gesellschaft – nix mehr Behütetes. Solche Biografien, die den Figuren Tiefe verleihen, ergeben sich hier aus dem Dreh, der auf einem 12-seitigen Script basiert, mit dem die Akteure vor und hinter der Kamera improvisieren. Weshalb der Film auch zweieinhalb Stunden dauert, und nicht, wie der reinen Story angemessen, 100 Minuten. Die Figuren und die sehr enge, unruhige Kameraführung packen und halten den Zuschauer bei der Stange.

Kino in Echtzeit – ohne ChiChi

Müssen die Protagonisten von Kreuzberg nach Berlin-Mitte kommen, dann dauert das so lange, wie das eben dauert. Rauben die Jungs die Bank aus, ist es für die Regie einfacher (und für die Produzenten billiger), wenn die Kamera bei der Titelheldin des Film im Auto bleibt; aber für den Zuschauer können zwei Minuten im wartenden Auto schnell sehr lang werden. Also säuft kurzerhand der Motor des gestohlenen Fluchtwagens ab und plötzlich sitzt der Zuschauer so senkrecht im Kinosessel, wie Victoria zappelig vor und unter dem Lenkrad, wo sie verzweifelt versucht, den Motor wieder in Gang zu bekommen, bevor die Jungs aus der Bank sind.

Diese Form des Erzählens bedeutet aber auch: Kunstvolles Licht, elegante Tiefenschärfen kannst Du vergessen. Du bist immer un-mit-tel-bar bei deinen Protagonisten, kannst nur konzentriert die Kamera draufhalten. Schippers norwegischer Kameramann Sturla Brandth Grøvlen kann die Protagonisten nicht sich zu weit von der Kamera entfernen lassen, wie wollte er sie wieder einholen? Hinterher laufen? In diesem Film ist alles roh, close, alles ist unwiederholbar, Du kannst nicht mittendrin sagen Oh, Mist, die Einstellung ist unscharf, nochmal bitte.

Die Bilder sind eine Zumutung und lassen die Leinwand explodieren

Die Bilder als solche sind eine Zumutung: zu dunkel, dauernd unscharf, extrem verwackelt. Auch eine Form, Dynamik zu erzeugen. Umgekehrt könnte man ja sagen, ein Regisseur, der seinen Film schneidet, dauernd die Einstellung wechselt, jedes Bild perfekt ausleuchtet, um Dynamik zu erzeugen, zerstört den realistischen Erzählfluss; Schipper und sein Team haben ein bisschen von der dänischen Dogma-Bewegung übernommen, die mit Lars von Triers Idioten (1998) ihren Anfang nahm. Während die Dogma-Regisseure damit zwischenmenschliche Sozialstudien betrieben, lassen Schipper und Sturla Brandth Grøvlen die Leinwand explodieren. Die 140 Minuten sind nicht nur für die Figuren auf der Leinwand anstrengend, auch der Zuschauer ist gefordert; das bisweilen gruslig schwankende Bild schlägt auf den Magen.

An diesem Film ist manches nicht fertig, nicht sauber, nicht perfekt und irgendwann fange ich sogar an, die Protagonisten zu ignorieren und über die nachzudenken, die ich nicht sehe – all die Leute im Hintergrund, die diesen Wahnsinnsdreh vor Ort möglich machen, Straßen kurzfristig sperren, Fahrstühle holen, Statisten in Bewegung setzen. Eigentlich tödlich, wenn ich während eines Films an dessen Machart denke. Nicht in diesem Fall. Dieses Bisschen an Distanz hilft dem Magen, zur Ruhe zu kommen.

Der erste Film aus der Weltstadt Berlin

Auf der Suche nach eigenen Spuren, anderen Wegen der Erzählform Kino, ist „Victoria“ ein irrsinniges, wahnsinniges, bescheuertes Projekt – dem ich höchsten Respekt zolle. Dann sind die Bilder halt unscharf, aber im Zusammenspiel mit dreisprachigen Dialogen, einer Spanierin in der Titelrolle, ein deutsch-bosnisch-türkischen Gang zeichnen sie ein umso klareres Bild der Weltstadt Berlin.

By the way …: Perfekt gebügelte Bilder bekomme ich ja nun wirklich zur Genüge mit Dinosauriern, Comicfiguren und deren Verwandten des Kommerzkinos geliefert – und diese gebügelten Bilder sind weit weniger real, als das, was Sebastian Schipper, Sturla Brandth Grøvlen und seine Leute hinter und vor der Kamera abliefern. Verstehen Sie nicht? Spätestens zehn Minuten vor Schluss – abgesehen von kleinen Kunstwerken, die Sturla Brandth Grøvlen mit seiner Kamera mehrmals im Film unterbringt, die aber vielleicht nur Nerds auffallen – tritt er in einen intensiven Dialog mit der Titelheldin des Films: Da müssen ein Todesfall, die Trauer darüber, die Bedeutung der Trauer darüber sowie der Ausweg in die Zukunft der Titelheldin ins Bild gefasst werden. Sturla Brandth Grøvlen ist da seit zwei Stunden hoch konzentriert bei der Sache. Er weiß ja, dass sein Regisseur nicht schneiden will. Auch Laia Costa weiß das. In dieser Situation finden die Schauspielerin in – buchstäblich – Handbewegungen und der Kamermann in Schärfeverlagerungen zueinander. Das fällt im Film erstmal gar nicht sonderlich auf. Wenn ich den Film ein zweites Mal sehe, mich mehr auf die Machart konzentrieren kann, sehe ich im Hotelzimmer zehn Minuten vor dem Abspann Bilder großer Poesie.

Laia Costa

Und von wegen vor der Kamera: Die sehr präzise spielende Laia Costa als Titelheldin Victoria ist eine Schau – im neuen Kino, im alten Kino, in jedem Kino.

Wertung: 8 von 8 €uro
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