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Plakatmotiv: Ballon (2018)
Ein perfekt inszeniertes Nichts
Titel Ballon
Drehbuch Kit Hopkins + Thilo Röscheisen + Michael Herbig
Regie Michael Bully Herbig, Deutschland 2018
Darsteller Karoline Schuch, Friedrich Mücke, Alicia von Rittberg, David Kross, Thomas Kretschmann, Jonas Holdenrieder, Tilman Döbler, Ronald Kukulies, Emily Kusche, Christian Näthe, Till Patz, Ben Teichmann, Sebastian Hülk, Gernot Kunert, Ulrich Brandhoff u.a.
Genre Drama, Historie
Filmlänge 120 Minuten
Deutschlandstart
27. September 2018
Inhalt

Sommer 1979 im thüringischen Pößneck. Die Familien Strelzyk und Wetzel haben einen waghalsigen Plan. Sie wollen mit einem selbstgebauten Heißluftballon aus der DDR in den Westen fliehen. Nun, wo perfekte Windbedingungen herrschen, wird Günter Wetzel die Sache jedoch zu gefährlich. Er hält den Ballon für zu klein für acht Leute, und seine Frau Petra hat Angst um ihre beiden Kinder. Daher springen sie kurzfristig von dem Fluchtversuch ab. Doris und Peter Strelzyk wollen nun mit ihren beiden Söhnen alleine die Flucht wagen. Sohn Frank hat sich in Klara Baumann, die Tochter des Nachbarn Erik, der für die Stasi tätig ist, verliebt und schreibt ihr einen Abschiedsbrief.

Nachts packt Familie Strelzyk den Ballon und weiteres Zubehör in ihren Anhänger, fährt in den Wald und hebt mit dem Ballon ab. In den Wolken versteckt können sie von den Grenzschützern nicht gesehen werden. Der Ballon stürzt jedoch mit Doris, Peter und den beiden Söhnen Frank und Andreas „Fitscher“ in der Gondel kurz vor der Grenze ab, weil sich der Stoff mit Wasser vollgesogen hat. Keiner der vier wird dabei verletzt, und sie begeben sich wieder zurück zu ihrem Auto und vernichten alle Beweise.

Die Stasi entdeckt den Fluchtversuch und nimmt unter Leitung von Oberstleutnant Seidel die Ermittlungen auf, der den gefundenen Ballon sicherstellen lässt. Er verhört die zur Zeit des Fluchtversuchs in Dienst befindlichen Grenzsoldaten und wirft ihnen vor, ihren Job nicht ernst genug genommen zu haben. Die Ermittler grenzen den Radius ein, in dem der Ballon gestartet sein muss und damit auch den Kreis der Verdächtigen.

Beide Familien leben in den nächsten Wochen in ständiger Angst, dass sie von der Stasi mit dem Fluchtversuch in Verbindung gebracht werden könnten. Besonders Doris ist besorgt, dass man die Medikamente, die sie im Wald verloren hat, mit ihrem Namen in Verbindung bringen könnte. Peter will es unbedingt noch einmal versuchen.

Zuvor reisen sie jedoch nach Berlin, wo sie hoffen, durch die Hilfe der US-Botschaft außer Landes gebracht werden zu können, doch dieser Versuch scheitert. Peter kann Günter davon überzeugen, einen weiteren Fluchtversuch zu unternehmen. Da sie bei der Beschaffung der Materialien vorsichtig sein müssen, kaufen die Familienmitglieder geeigneten Stoff in verschiedenen Städten jeweils nur in kleinen Mengen. Jede Nacht sitzt Günter an der Nähmaschine, um die Stoffteile zusammenzufügen.

Unterdessen sitzt Oberstleutnant Seidel die Zeit im Nacken. Er will um jeden Preis verhindern, dass sich die DDR durch einen gelungenen Fluchtversuch blamiert …

Was zu sagen wäre

Michael Bully Herbig will sich weiter entwickeln. Er sagt, er will jetzt kein Comedy-Regisseur mehr sein, also nicht mehr das machen, was bislang sein Markenkern war (Bullyparade: Der Film – 2017; (T)Raumschiff Surprise – Periode 1 – 2004; Der Schuh des Manitu – 2001; „Erkan & Stefan“ – 2000). Er will jetzt „ernste Filme“ drehen. Das ist spannend. Herbig hat in seinen Filmen bewiesen, dass er Kamera und Montage beherrscht, wie Wenige andere im deutschsprachigen Raum. Ein Thriller unter „Bullys“ Regie? Warum nicht? Gib mir Bier und Nachos – das wird spannend!

Als James Cameron 1997 seine Zuschauer mit einem dreistündigen Drama rund um den Untergang der Titanic maltraitieren wollte, waren die Berufspessimisten schon im Vorfeld überzeugt, dass das nicht funktionieren könne. Es wisse ja schließlich jeder, dass das Schiff absäuft, was soll der Regisseur von Terminator und The Abyss da spannend machen? Es mag merkwürdig wirken, Camerons Schiffsuntergang zu Rate zu ziehen, aber das ist ungefähr die Fallhöhe, der sich Michael Herbig stellt: Wir wissen alle, dass die Flucht aus der DDR mit dem Ballon funktioniert hat. An die Stelle, an der Cameron dann mit großem SFX-Aufwand das Schifff untergehen lässt, an der er uns fiebern lässt, ob das Leonardo di Caprio und Kate Winselt als Liebespaar eine Zukunft haben – also an die Stellen, an denen er den Pessimisten eine lange Nase drehte (ich darf erinnern, dass Titanic über ein Jahr ununterbochen in deutschen Kinos lief, Rekord!) – hat Herbigs Film nichts.

Plakatmotiv: Ballon (2018)Visuell hat Michael Herbig alles richtig gemacht. Streiten kann man sich über den exorbitanten Einsatz des Scores; manche Szenen wären ohne Musik womöglich dichter, ergreifender gewesen, aber so geht Kino heute halt – nahezu durchgehen brummt ein bedrohlicher Bass aus der Tonspur. Herbigs Kamera, sein Schnitt, die liebevolle ausstattung, die Dramaturgie sind superb. Aber sie sind es im luftleeren Raum. Denn er hat seine Protagonisten vergessen.

Es ist der Film „nach einer wahren Geschichte“. Und womöglich müsste ich als Zuschauer jetzt fairerweise erst einmal recherchieren, wie akkurat diese wahre Geschichte nun eigentlich nacherzählt worden ist, um den Film wirklich bewerten zu können. Vielleicht hat sich die Geschichte der beiden Familien ja genau so mit all den Ticking-Clock-Thriller-Elementen zugetragen und vielleicht war die Stasi wirklich so begriffstutzig und vielleicht hat Herbig der wahren Geschichte nur minimal dramaturgisch auf die Sprünge geholfen.

Aber historische Recherche ist nicht die primäre Aufgabe des Kinozuschauers, auch nicht, wenn er über lauter Klischee-Dramaturgie gestolpert ist: Kann es sein, dass die angeblich allmächtige Stasi den wichtigsten Hinweis auf potenzielle Republikflüchtlinge, nämlich leicht zuordbare Medikamente, wochenlang liegen lässt, bevor sie dieser Spur nachgeht? Wie geht das, dass eine ganze Region von der Stasi abgeriegelt wird, der Wartburg mit Ballonanhänger aber unbeobachtet in die Wildnis fahren kann, während zwei der Protagonisten auf einem Motorrad erst von einem Kontrollposten angehalten werden und dann, als die Motorradfahrer keine Papiere vorweisen können, durchgewunken werden, weil sie ja „kein Wartburg mit Anhänger“ sind? In einem 08/15-Thriller geht sowas. Aber Herbig will ja Authentizität verkaufen. Die Wahrheit ist: Herbig kann die Stasileute so grotesk inszenieren, weil sie in Wirklichkeit damals erst Wind von der ganzen Sache bekamen, als der Ballon schon auf oberfränkischen Boden gekracht war. Der wahrhaftigen Spannung dieser wahren Geschichte traut Herbig nicht und greift zu Thrillermethodik.

Es wird schwierig auch, weil beiden Familien die Authentizität abgeht. Wir lernen sie kennen als Regime-Lästerer in einer Schultheateraufführung. Von Beginn an sind sie, nunja, Funktionäre! Sie sind in diesem Film, um zu funktionieren: Die kleine Familie gegen den bösen Staat – das ist ihre Aufgabe. In einem kurzen Wortgefecht wird eine durch DDR-Bonzen tragische Familiengeschichte erwähnt, aber was nun eigentlich die Familien von der DDR entfremdet, bleibt im Schatten.

Herbig setzt darauf, dass seine Zuschauer schon wissen, dass ja niemand gerne in dem Unterdrückerregime der DDR leben möchte, und er findet auch plastische Bilder für das Leben in diesem Regime. Da ist der Stasi-Offizier, der einfachen Wachsoldaten Karriere beendent vorwirft, nicht auch eine Ballonflucht in die tägliche Routine des Wachdienstes an der Grenze eingepreist zu haben. Da ist der kleine Junge in der Kita, der sich verplappert, weil sein Papa in letzter Zeit so viel näht. Da ist der Nachbar, der bei der Stasi arbeitet, und den (unerkannten) Ballonbastler bittet, ob der als „Tüftler“ ihm nicht Westfernsehen einrichten könne, um „Drei Engel für Charlie“ gucken zu können.

Gleichzeitig ist da der Schwiegervater, der zufrieden ist mit „meinem Haus, meinem Garten drumrum. Und mit meiner Familie“. Mehr über den Alltag in der DDR erfahren wir nicht. Herbigs DDR besteht aus Spitzeln in der Nachbarschaft und bewaffneten Männern in Uniform, die aussehen, als würden sie im Zweifelsfall erst schießen und dann fragen. Das kann man alles so machen. Aber es stellt sich dann auch die Frage, wie authentisch das alles noch ist, oder anders ausgedrückt: Wie ernst kann ich das alles nehmen, was mir der Film da als „wahre Geschichte“ verkaufen will? Als die Flüchtigen im Westen landen, fragt ein Polizist: „Wie viele kommen denn da noch?“ Da traut sich Herbig mal einen kleinen Seitenhieb auf aktuelle Geschehnisse und macht deutlich, dass es noch gar nicht so lange her ist, dass auch Deutsche geflohen sind, weil sie keine ­Zukunft sahen. Das klingt nach Motivation eines Filmemachers: Das Heute mit dem Gestern erklären. Mehr Motivation ist nicht; warum Bully ausgerechnet diesen Film „nach einer wahren Geschichte“ machen wollte, die die Disney-Studios Anfang der 1980er Jahre schon mal als „Mit dem Wind nach Westen“ verfilmt haben, lässt sein Film nicht erkennen.

Nach rund 70 Minuten kommt mir die Familie zum ersten Mal nahe (was ich schwierig finde, weil die Familie mein emotionaler Anker in dem Film sein soll). Da bricht Vater Peter im Hotelzimmer weinend zusammen, weil er, nachdem die erste Ballonflucht schief gegangen ist, glaubt, seiner Pflicht als Versorger und Beschützer seiner Familie nicht nachgekommen zu sein. Da stehen sein sehr kleiner Sohn Fitscher und sein Teenager-Sohn Frank aus ihrer Schlafstatt auf und trösten den Vater, dass der doch bisher alles richtig gemacht habe. Das ist ein emotionaler Moment – der sich rasch verflüchtigt, weil: So funktioniert das Storytelling in Hollywood: Der Wir-wollen-raus-Funktionsfamilie werden hier noch rasch ein paar juvenil-virile Gefühle beigemischt, um es spannend zu halten.

Plakatmotiv: Ballon (2018)Es ist nur eben nicht spannend. Bei jedem Thrill, bei jeder Stasi-klingelt-an-Tür-,-Protagonist-erschrickt-weil-er-sich-ertappt-wähnt wissen wir schon vorher, dass die Stasi-Offiziere gar nicht an der Tür der Ballon-Familie Strelzyk klingelt, sondern dass das nur ein Regie-Gag ist, den sich Herbig spätestens bei Jonathan Demmes Schweigen der Lämmer abgeschaut hat. Denn wir wissen ja, dass Familie Strelzyk und die Familie Wetzel es letztendlich schaffen – und zwar ALLE! Bully Herbig fehlt der absaufende Leonardo Di Caprio für sein Drama.

Das, was Herbig da erzählt, ist spannendes Film-Handwerk, in dem der etwa 12-jährige Youngster der Familie Strelzyk mehrfach für die elementaren Fragen zuständig ist, die dem Vater dann die Möglichkeit geben, nochmal darauf hinzuweisen, dass der DDR-Staat ja ganz ganz böse ist – während der DDR-Staat an sich, also der, der sich dem Zuschauer offenbart, lediglich so klischeehaft böse ist, wie etwa auch Voldemorts Horden böse sind, weil man halt einen Schurken braucht fürs Drama – und in dem Frank, der Ältere, ein Fistanöllchen mit der Nachbarstochter hat, also der Tochter des Stasi-Mannes. Mit der geht Frank irgendwann Drachen fliegen. Und als der fliegt, fragt er sie „Willst du ihn fliegen lassen?“ und sie fragt ihn „Willst Du mich küssen?“ und dann küsst er sie und der Drachen verschwindet im verwehten Nirgendwo. Kurz: Liebe stört hier! Auch als Nachtigall-ick-hör-Dir-trapsen bekannt.

Aber außer, dass Herbig daraus eben diese Behauptung baut („Liebe stört“), stört die Liebesgeschichte dann auch weiter nicht so wirklich, und wieder frage ich mich im Kinosessel: Ist das noch authentisch, oder ist das doch nur ein gut gebauter Thriller? Hier liegt das große Dilemma des ernst gewordenen Bully: Rein handwerklich gesehen spielt sein Thriller in der durchschnittlichen Netflix-Riege. Aber sein Wunsch, eine wahre Geschichte zu verfilmen, bricht dem Film das Genick.

Auf der Meta-Ebene könnte man auch sagen: Michael Bully Herbig steht im Abspann als alleiniger Produzent. Er also hat den Film finanziert. Den Film, mit dem er sich von seinen Comedy-Movies verabschieden will. Er will diesem Image so unbedingt entfliehen, wie die beiden Familien im Ballon dem DDR-Regime.

Die beiden DDR-Familien haben es geschafft: „Sind wir hier im Westen?“ „Na, in Oberfranken!“ Herbig sucht filmisch noch den geeigneten Landeplatz.

Wertung: 3 von 8 €uro
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