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Plakatmotiv: Mary Reilly (1996)

Jekyll und Hyde aus
der Sicht einer Frau

Titel Mary Reilly
(Mary Reilly)
Drehbuch Christopher Hampton
nach dem Roman "Im Haus des Dr. Jekyll" von Valerie Martin
Regie Stephen Frears, USA, UK 1996
Darsteller

Julia Roberts, John Malkovich, George Cole, Michael Gambon, Kathy Staff, Glenn Close, Michael Sheen, Bronagh Gallagher, Linda Bassett, Henry Goodman, Ciarán Hinds, Sasha Hanau, Moya Brady, Emma Griffiths Malin, David Ross u.a.

Genre Drama
Filmlänge 108 Minuten
Deutschlandstart
25. April 1996
Inhalt

Hausmädchen Mary Reilly glaubt sich am Ziel ihrer Träume. Nach einer schweren Kindheit und einem Leben in Armut hat sie nun eine gute Anstellung im Haus des angesehenen und wohlhabenden Arztes Dr. Henry Jekyll gefunden.

Zwischen den beiden baut sich nach und nach eine innige Beziehung auf, die bald mehr sein könnte, als das Dienstverhältnis erlaubt. Doch dann taucht plötzlich der neue Assistent von Doktor Jekyll auf, der ebenso stattliche wie charismatische Edward Hyde, und bringt das Gefühlsleben gehörig durcheinander.

Doch ein Geheimnis liegt in der Luft. Mister Hyde ist nicht der, der er zu sein scheint …

Was zu sagen wäre

Wer bin ich? Gut? Böse? Ein Kämpfer gegen die Ungerechtigkeit, Heilsbringer, ein ängstlicher Mitläufer, der sich weg duckt? Oder ein Vordrängler, Vorteilssucher, ein lauter Streiter für meinen Platz in der Welt? Oder bin ich immer beides, eingebettet in einen Moralkodex, den mir das friedliche Zusammenleben mit anderen diktiert?

Robert Louis Stevensons "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" gehört zum Kanon der klassischen Kinogruseler, neben Dracula, Frankenstein und den Werwolf. Immer wieder verfilmt, ein Schizophrenie-Schocker mit anspruchsvollem Special-Effect-Aufwand – die Verwandlung des freundlichen Jekyll in den brutalen Nacht-und-Nebel-Hyde ist allein mit Überblendungen nicht gemacht; ein ausgefeiltes MakeUp-Konzept ist zwingend.

War zwingend! Stephen Frears geht das Thema von einer anderen Seite an und nähert sich damit den erotischen Konnotationen an, die die vorgenannten Kreaturen schon immer offen mit sich herumgetragen haben. Mr. Hyde hingegen, die dunkle Seite des Dr. Jekyll, war an Erotik nicht interessiert. Für Stephen Frears ("The Snapper" – 1993; Ein ganz normaler Held – 1992; Gefährliche Liebschaften – 1988; "Mein wunderbarer Waschsalon" – 1985) spielt die erotische Komponente hingegen gerade beim Thema "Schizophrenie" eine Rolle. Er holt das Hausmädchen Mary Riley ins Haus, die in Stevensons Roman, anders als der Butler Mr. Poole und der Bedienstete Bradshaw, nicht auftaucht und erst mit dem Roman von Valerie Martin ins Rampenlicht trat, der die Vorlage zu Frears' Film liefert. Stevenson erzählt aus der Perspektive eines Anwaltes und eines Arztes, nähert sich wissenschaftlich. Frears erzählt die Geschichte aus rein weiblicher Sicht – dass Mary für ein schüchternes Hausmädchen im standesbewussten viktorianischen England erstaunlich gebildet und neugierig ist, ist bemerkenswert, aber noch nicht als wissenschaftlicher Blick zu bewerten.

Dr. Jekyll ist der weiterhin freundlich distanzierte aber menschlich zugewandte Herr im Haushalt, den Mr. Poole mit strengem Regiment führt. Mr. Hyde hingegen ist ein libidinöser Draufgänger, der Mary, die blässliche Hausmagd bedrängt und befingert, spätestens beim zweiten Nein aber von ihr ablässt. Nur jenseits der Kamera scheint er ein blutgierigen Ungeheuer zu werden; am Morgen danach trieft in einem Zimmer des Hurenhauses das Blut von der Decke und aus allen Laken, mitten. drin eine aufgeschnittene Ratte. es bleibt unserer Fantasie vorbehalten, uns auszumalen, was da passiert sein mag. Dieser Mr. Hyde, bei Stevenson die literarisch eingefasste Urform des Bösen in uns allen, ist bei Frears ein lediglich unangenehmer Zeitgenosse, der zwar mit großem Interesse zwischen den blutigen Eingeweiden auf dem Londoner Markt herumstromert und anschließend im Leichenhaus um die Ecke interessiert einen Toten ausweidet. Aber den hochnoblen (auch in Stevenson's Roman sterbenden) Parlamentsabgeordneten Sir Danvers Carew erschlägt Hyde in erster Linie deswegen, weil der Politiker mit einer minderjährigen Dirne durch die Straßen stolziert, die er sich später „zu nehmen“ gedenkt. Hyde bleibt zwar der Brutale, aber die eigentlichen Schurken, die hinterhältig ihre Macht missbrauchen, finden sich hier unter den Aristokraten. John Malkovich (In the Line of Fire: Die zweite Chance – 1993; Jennifer 8 – 1992; Gefährliche Liebschaften – 1988; Das Reich der Sonne – 1987) leiht dem Zerrissenen mit Denkerpose das Drama des Bösen, das nur ungefragt von allen Fesseln befreit auf London losgelassen wurde.

Das schüchterne Hausmädchen ist von alle dem fasziniert. Nicht nur ist da der freundliche Hausherr, der sie anspricht und sich besorgt ob ihrer Narben an Hals und Handgelenken zeigt. Auch dieser Assistent des Herrn, Mr. Hyde, übt eine starke Faszination auf sie aus – zudringlich, aber nicht brutal, eigenmächtig, aber nicht ohne Respekt. Ein bisschen bluttriefend, insgesamt aber langweilig. Die ehemalige Titelfigur bei Stevenson ist bei Frears nur ein Katalysator für die Entwicklung einer Frau, die ihre eigene Mrs. Hyde erkennen soll.

Mary Riley, das neugierige, ungeschminkte, blasse Hausmädchen, spielt Superstar Julia Roberts (Alle sagen: I love You – 1996; Power of Love – 1995; Prêt-à-Porter – 1994; I love Trouble – 1994; Die Akte – 1993; The Player – 1992; Hook – 1991; Entscheidung aus Liebe – 1991; Der Feind in meinem Bett – 1991; Flatliners – 1990; Pretty Woman – 1990; Magnolien aus Stahl – 1989; Pizza, Pizza – Ein Stück vom Himmel – 1988). Diese Paarung – Frears und Roberts – versprach hohe Klasse: Frears, der schon mit dem Historiendrama Gefährliche Liebschaften für volle Kasse gesorgt hatte, inszeniert La Roberts, die beweisen will, dass sie mehr auf Lager hat als ein Lächeln und lange Beine. Vermeintlich letzte Zweifel an dieser Imagekorrektur räumte eine 8-Millionen-Dollar-Gage aus dem Weg. Sie behauptet sich in der körperlich zurückgenommenen Rolle großartig, wechselt zwischen ängstlichem Großauge und unbewegt empörtem Großauge fließend, bleibt aber vor allem das Großauge, das auch blass geschminkt die überirdische Schönheit bleibt. Der Superstar hat das Drama, dass sie jederzeit die überirdische Schönheit ist, die uns von der Leinwand herunter ticketverkaufsfördernd anstrahlt; eine zum Pferde stehlen mit anschließendem Bier aus der Flasche ist sie nicht. Ich schaue ihr gerne dabei zu, wie sie, ausgelöst durch den sanften Herrn sowie den rüden Assistenten, ihre eigene Persönlichkeit entdeckt, einen eigenen Willen entwickelt, ihre eigene Hyde rauslässt, folge dem ängstlichen Reh in die verbotene Studierstube des Herrn Jekyll ebenso angefasst wie der widerständen jungen Frau, die in Mr. Hyde das eigentliche Opfer dieses Dramas erkennt.

Die Jekyll/Hyde-Thematik wirkt in Zeiten von Alien-Horror und Independence Day-Effekten nicht mehr angesagt. Frears' Ansatz ist erfrischend, weil er dem Männerdrama eine feministische Perspektive gegenüber stellt. An der Kinokasse zahlte sich der frische Ansatz nicht aus. Die Produktionskosten des Films betrugen ca. 40 Millionen US-Dollar (inklusive der acht Millionen für Julia Roberts). Bei einem weltweiten Einspielergebnis von etwa 12,4 Millionen US-Dollar gilt der Film als wirtschaftlich nicht erfolgreich.

Wertung: 7 von 11 D-Mark
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