Buchcover: Stephen King – Der Anschlag

Eine Ziegelstein-dicke Zeitreise
im flotten TV-Serien-Format

Titel Der Anschlag
(11/22/63)
Autor Stephen King, USA 2011
Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner
Verlag Heyne
Ausgabe Gebunden, 1048 Seiten
Genre Drama, Historie
Website stephenking.com
Inhalt

Jake Epping ist Lehrer, lebt in Scheidung von einer Frau, die es zu viel mit Alkohol und am Ende mit Kollegen trieb. Nun lebt er in den Tag, korrigiert Aufsätze und wartet auf bessere Zeiten. Die beginnen mit seinem Freund Al, der eine Imbissbude betreibt, die etwas beherbergt. So etwas ähnliches wie eine Tür in die Vergangenheit, ein Portal ins Jahr 1958, genau: ein Portal zum 9. September 1958, 11.58 Uhr. Woher? Wieso? Keine Ahnung. Es ist einfach da, sagt Al, der in den vergangenen Tagen um Jahre gealtert scheint, und betraut Jake mit einer alle Grenzen sprengenden Mission: „Reise zurück und verhindere das Attentat auf John F. Kennedy!”

Jakes Einwand, er könne doch nicht einfach … er habe schließlich im Hier und Jetzt Verpflichtungen … und überhaupt … , kann Al leicht entkräften: Egal, wie lange man sich im „Land des Einst“ auch aufhalte, im Hier und Jetzt seien bei der Rückkehr immer nur zwei Minuten verstrichen. Es könne also gar nichts passieren und niemand werde Jake auf die Schnelle vermissen können. Jake lässt sich auf einen Testlauf ein, reist in die Vergangenheit, verhindert dort einen Jagdunfall, bei dem eine Lehrerin aus der Nachbarstadt querschnittsgelähmt zurück bleibt und kehrt zurück. Jake war einige Tage weg – aber hier nur zwei Minuten. Es hat funktioniert.

Die Idee, die schlimmen Folgen nach dem Kennedy-Attentat – Vietnam-Krieg, Studentenunruhen – zu korrigieren, nimmt reizvolle Konturen an. Kleiner Pferdefuß: Reist Jake erneut ins Jahr 1958, sind alle Änderungen zurück gesetzt. Das heißt: Bei einem Jagdunfall wird ein Mädchen schwer verletzt und bleibt querschnittsgelähmt im Rollstuhl zurück. Bei einem weiteren Testlauf dehnt Jake seine Versuche aus und stellt … Veränderungen gegenüber seiner ersten Reise fest – ihm scheint es, als sei die Vergangenheit nicht immer … gleich. Jake hat sich vorgenommen, dem Hausmeister an seiner Schule ein würdevolleres Leben zu schenken. Der hatte als Kind den Amoklauf seines Vaters nur knapp und schwer verletzt überlebt, bei dem seine Mutter und Schwester ums Leben kamen.

Also korrigiert Jake nun den Jagdunfall und das Leben des Hausmeisters. Für letzteres muss er schon bis nach Derry reisen, eine kleine Stadt im Süden Maines, in der in diesem Sommer 1958 ein monströser Clown sein Unwesen getrieben hatte – die Stadt steht unter Schock. Die Rettung der Familie vor dem Amok des Vaters läuft, naja, irgendwie schief. Als Jake zurück in der Gegenwart ist, sind die Veränderungen nicht so wie er erhofft hatte. Dieses Ergebnis lässt ihn an der monströsen Kennedy-Mission zweifeln. Wenn schon die Veränderungen an Personen, die für die Historie nicht so relevant sind, schief gehen können, was passiert dann erst, wenn man eine Jahrhundert-Tat aus der Gleichung streicht?

Al kann ihm diese Frage nicht mehr beantworten. Er war zu oft in der Vargangenheit, hat dort zu viel Lebenszeit gelassen und stirbt kurz nach Jakes zweiter Rückkehr ins Hier und Jetzt. Jake ist an sein Versprechen gebunden und auch viel zu geil darauf, herauszufinden, was er alles bewirken kann – in der Vergangenheit. Wieder steigt er durch das Portal. Diesmal, um seine Mission zu Ende zu bringen. Er plant etwas über fünf Jahre ein. Er muss einen Jagdunfall verhindern. Er muss einen (späteren) Hausmeister und dessen Familie retten. Er muss Kennedy retten – und damit die Welt?

Für Jake beginnt ein neues Leben in einer für ihn neuen Welt. Es ist die Welt von Elvis und JFK, von großen amerikanischen Autos und beschwingten Highschool-Tanzveranstaltungen. Es ist die Welt des gequälten Einzelgängers Lee Harvey Oswald, aber auch die der Bibliothekarin Sadie Dunhill, die Jakes große Liebe seines Lebens wird – eines Lebens, das gegen alle normalen Regeln der Zeit verstößt.

Je näher Jake seinem Ziel kommt, den Mord an Kennedy zu verhindern, desto bizarrer wehrt sich die Vergangenheit dagegen – mit aller gnadenlosen Gewalt, die sich auch gegen Jakes neue Liebe richtet …

Was zu sagen wäre
Der Anschlag

‘Und trotzdem, Gott steh mir bei, wollte ich irgendwie nach drüben. Konnte ich es kaum erwarten hinüberzukommen. Ich wollte die USA in meinem Chevrolet sehen; Amerika lud mich zu einem Besuch ein.’ Er träumt den Traum jenes Amerika mit Elvistolle und Haifischflosse am Heck. In der die Nachbarn noch freundlich und das Design traumhaft waren.

1.050 Seiten aus einem alten Manuskript aus der Schublade

Stephen King hat einen neuen Ziegelstein geschrieben. Knapp 1.050 Seiten hat er vollgeschrieben und das titelgebende Attentat gerät zunehmend zur Nebenhandlung. In der Hauptsache reisen King und seine Hauptfigur Jake durch das „Land des Einst“, stets verfolgt von der Vergangenheit, die sich ihm und seinen Plänen mit immer härteren Mitteln widersetzt – wenn King schon keine Monster oder Grinse-Clowns auffahren kann, dann bekommt halt die Zeit selbst einen Charakter und bedroht den Helden mit „Harmonie“; manchmal bildet sich Jake auch ein, den Schatten eines böse grinsenden Dämons auf der Schulter eines Mädchens zu sehen. Apropos Grinse-Clown. Jake bereist im Jahr 1958 auch Derry – just in jenem Sommer, als sich die kleine Stadt von den Schrecknissen der in „es“ beschriebenen Ereignisse erholt.

Für das „Attentat“ hat King zum zweiten Mal in die Schublade mit seinen Ideen aus den 1970er Jahren gegriffen. Das hat schon in Die Arena funktioniert. Hier funktioniert es wieder. Süffig flüssig geschrieben ist „Das Attentat“ nie langweilig, auch wenn man sich schon fragen mag, ob es eigentlich diese ausführlich erzählte Liebesgeschichte in der texanischen Kleinstadt tatsächlich braucht, wenn wir doch zunehmend darauf warten, was mit diesem Kennedy-Attentat passiert und was sich dadurch gegebenenfalls in der Zukunft/Gegenwart verändert.

Viele kleine Geschichten – Kein großer Bogen

Stattdessen verliert sich King in episodenhaft erzählten Schmonzetten über das Leben an einer Schule in einer kleinen texanischen Stadt, lässt Jake die große Liebe erleben, die ihm in seiner Gegenwart verwehrt blieb und jagt ihm einen wahnsinnigen Ex-Liebhaber auf den Hals – seit den 90er Jahren gehören prügelnde Ehemänner und Ex-Liebhaber bei King zwingend zum Repertoire. Die Wettmafia bringt Jake fast um, weil sie dessen klugen Wetten misstraut – klar: Ein Mann aus der Zukunft, weiß, auf was er in der Vergangenheit wetten muss, das wissen wir spätestens seit dem Kinohit Zurück in die Zukunft II (USA 1989). Aber all das bleiben Geschichtchen, Dönekes, Elemente für die Kapitel einer Serie. Als wir Jake kennenlernen, wird ausführlich dargelegt, dass er nicht in der Lage ist, zu weinen. Das sieht nach einem wichtigen roten Faden aus, der aber dann nicht weiter gewoben wird, nur zwischendurch als Element kleine Gastauftritte hat. Um sich ein Leben in der Vergangenheit finanzieren zu können, werden die möglichen Wetten als zwingend eingeführt und enden unvermittelt in der Fast-tot-Prügelei. Und zwischendurch erlebt Jake seine große Liebe Sadie ausschließlich im Bett – jedesmal wechseln die beiden ein paar Sätze, meist shaker-shaker, und springen dann aus den Klamotten.

Als sich Jake und Sadie endlich auf den Weg machen, um das Attentat zu verhindern, werden sie alle paar Seiten durch ein Ereignis gebremst – mal rammt ihr Linienbus ein Auto, mal platzt ein Motor, mal hält ein Bettler sie auf – die Vergangenheit tut eben wirklich alles, um eine Veränderung zu verhindern. Beim Lesen allerdings ist das lästig. Einerseits ist ja wirklich nichts dagegen zu sagen, wenn ein Roman die Spannung hoch hält. Aber: Was ist an einem platzenden Motor spannend? Er bremst in doppeltem Sinne – unsere Helden und unsere Lesefreude, auch weil wir uns plötzlich mit den physikalischen Gegebenheiten eines Motors beschäftigen müssen; dabei ahnen wir doch längst: Die Frage „Attentat oder Attentat verhindern“" wird sicher nicht durch einen platzenden Motor entschieden.

Ein ausführlicher Entwurf für eine TV-Serie

Der lange Roman wirkt wie das ausführliche Treatment für eine neue TV-Serie. Während er „Das Attentat“ schrieb, bereitete CBS eine von Steven Spielbergs Amblin produzierte Miniserie vor, die auf Kings Roman Die Arena basierte („Under the Dome“ – USA 2013). „Das Attentat“ lässt sich von Buch in Film jedenfalls leichter zum Mehrteiler umkonstruierten, in dem – TV-Dramaturgie – alle sieben Minuten ein Höhepunkt und nach 40 Minuten ein Cliffhanger auf die nächste Folge stehen muss.

Im Land des Einst geht es anfangs recht flott: Mehrere Aufgaben hat sich Jake gestellt, die er in seiner Gegenwart korrigiert sehen möchte. Da entwickelt sich eine kurzweilige Action-Mystery, die uns mit den besonderen Feinheiten der Vergangenheit und ihren „Harmonien“ vertraut macht. Und dann lernt Jake Sadie kennen und aus dem Mystery-Thriller wird eine Liebesgeschichte in einer Kleinstadt in Texas mit properen Be-Bop-A-Lula-Teenagern. Der große 1.000-Seiten-Spannungsbogen geht darunter verloren, ja, er leidet so sehr, dass einem diese Kennedy-Nummer immer uninteressanter wird, denn auf die scheint es der Autor gar nicht anzulegen.

Plötzlich gibt es „Zeitwächter“

Wäre der Roman schon eine TV-Serie, würde diese Kennedy-Attentat-Ja-oder-Nein-Frage gegen Ende der vorletzten Folge beantwortet, an die sich dann in der letzten Folge eine was-wäre-wenn-Utopie anschließt, der ich nur in Teilen folgen mag; das sind die Teile, in der nicht die Vergangenheit selbst zum Akteur wird und also für so was wie ausgleichende Gerechtigkeit sorgt. Die Vergangenheit … handelt? Es gibt unscharf erklärte Zeitwächter, die immer kranker werden, je häufiger man durch das Portal tritt?

Aber so wie King sich in seiner Arena schon nicht so wirklich für die Ursache der Glaskuppel interessierte und eine etwas windschiefe Lösung präsentierte, so präsentiert er hier pflichtschuldig eine Erklärung für das Zeitsprungphänomen mit all seinen Besonderheiten, aber eigentlich braucht die keiner, ist ein Zeitfresser. Auf den letzten 50 Seiten – pardon: den letzten zehn Minuten der TV-Serie – ist King dann wieder ganz bei sich und beendet doch noch einen schönen Bogen zum Beginn seines Zeitsprung-Epos’.

Fazit: King ist ein exzellenter Autor, kann wunderbar Spannung aufbauen und lösen. Der ganz große Bogen ist ihm aber seit „es“ nicht mehr geglückt – der Ziegelstein-Roman ist vielleicht nicht sein Format. „Das Attentat“ ist kurzweiliger Lese-Thrill, der etwas zu beliebig Story an Story an Story reiht.

Ich habe das "Der Anschlag" zwischen dem 7. April und dem 19. Juli 2013 gelesen.