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Plakatmotiv: Sie leben (1988)

Der Meister des Schreckens wagt
sich an eine Kritik des Systems

Titel Sie leben
(The live)
Drehbuch John Carpenter
nach der Kurzgeschichte "Eight O’Clock in the Morning" von Ray Nelson
Regie John Carpenter, USA 1988
Darsteller

Roddy Piper, Keith David, Meg Foster, George 'Buck' Flower, Peter Jason, Raymond St. Jacques, Jason Robards III, John Lawrence, Susan Barnes, Sy Richardson, Wendy Brainard, Lucille Meredith, Susan Blanchard, Norman Alden, Dana Bratton u.a.

Genre Thriller, Horror
Filmlänge 94 Minuten
Deutschlandstart
4. Mai 1989
Website theofficialjohncarpenter.com/feature-films/
Inhalt

Der obdachlose Tagelöhner John Nada kommt nach Los Angeles, um endlich eine Festanstellung zu finden. Aber wie schon zuvor findet er hier nur Armut und weitere Arbeitslose, die an den Suppenküchen Schlange stehen. Lediglich der Bauarbeiter Frank kann ihm wenigstens für einen Tag Arbeit auf seiner Baustelle verschaffen.

Eines Nachts sieht John eine mysteriöse Übertragung im Fernsehen, in der ein Wissenschaftler die Menschheit vor Invasoren warnt, die bereits weite Teile des öffentlichen Lebens auf der Erde infiltriert haben sollen. Er findet den Ursprung des Fernsehsignals in einer alten Kirche, in der eine Gruppe ein Treffen veranstaltet. Noch in der gleichen Nacht wird die Kirche von der Polizei geräumt und John findet dort am nächsten Morgen nur eine versteckte Kiste mit Sonnenbrillen.

Plakatmotiv (US): Sie leben (1988)Als sich John eine der Sonnenbrillen aufsetzt, geschieht etwas Merkwürdiges: Die Welt sieht durch die Gläser völlig anders aus; Werbeplakate, Straßenschilder und Zeitschriften beinhalten Botschaften, die die Bevölkerung zum Konsum und zum Stillbleiben aufrufen. Noch viel merkwürdiger wird es jedoch, als John das erste Mal bestimmte Personen durch die Brillengläser sieht: Statt in ein menschliches Antlitz blick er auf eine Art Totenschädel. Die Aliens sind unter uns …

Was zu sagen wäre

John Carpenter präsentiert seine Version der "Invasion of the Bodysnatcher“. Bei ihm aber müssen Menschen nicht mehr durch gefühllose Klone ersetzt werden. In John Carpenters Version werden die Menschen von Außerirdischen wahlweise gekauft, versklavt oder getötet. Wobei gekauft nur die werden, die was zu bieten haben – Rohstoffe, Fabriken und solcherlei.

Der Film zeigt uns ein Los Angeles – und nichts deutet darauf hin, dass das anderswo anders wäre – im Elend. Die Menschen hangeln sich von Tagelohn zu Tagelohn, ernähren sich in Suppenküchen und schlafen im Freien. Die Welt hat den American Dream hinter sich gelassen. Der Held, er heißt John Nada, und Nada heißt im Spanischen „Nichts“, stapft arbeitslos durch die Straßen der Großstadt, arbeitswillig, aber außerhalb des „Der, der das Geld hat, macht die Regeln!“–Systems; eines Systems, das der reinen Lehre des klaren Kapitalismus gehorcht – der Markt wird es regeln: „Ihre Münder sind voller Bitterkeit“, formuliert ein blinder Prediger auf der Straße. „Diese Teufel kennen keine Furcht vor Gott. Sie haben Herz und Verstand unserer politischen Führung an sich gerissen. Sie haben die Reichen und Mächtigen für sich eingespannt und uns haben sie geblendet, damit wir die Wahrheit nicht sehen. (…) Wir sind ihr Eigentum. Wir gehören ihnen. Sie besitzen uns, kontrollieren uns.

Dieser John Nada mit seiner VoKuHiLa-Blondmähne und dem Muscle-Shirt ist auffallend uncharismatisch, also einer von uns, die wir im Kinosessel sitzen. Und er ist einer, der an den American Dream glaubt: „Ich leiste einfach harte Arbeit für mein Geld und warte auf meine Chance. Ich glaube an Amerika. Ich halte mich an die Regeln. Heute macht jeder irgendwann mal eine schwere Zeit durch.“ Diese Regeln dechiffriert John Carpenter in der Folge und entblößt sie als Produkt einer großen Verschwörung. Klimawandel. Überwachungsstaat. Radikal-Kapitalismus. Wer hat, dem wird gegeben, wer nichts hat, muss sehen, wo er bleibt – nur wird das alles nicht gesteuert von Goldman Sachs oder auch nur der Deutschen Bank, die Elite der Gesellschaft besteht aus Außerirdischen, die uns versklaven wollen! Es ist ein schönes Detail, dass wir, die wir „geblendet“ sind, erst mit einer Sonnenbrille klar sehen können.

Plakatmotiv (US-Wiederaufführung): Sie leben (1988)Jahre später, als eine Art Best of seines Werks auf Blu-ray veröffentlicht wurde, auf diese Ausgangssituation angesprochen, behauptete John Carpenter, er habe seinen Film den Produzenten als Science Fiction verkauft, in Wirklichkeit aber eine Dokumentation gedreht – also einen journalistisch unterfütterten Tatsachenfilm.

So plakativ das nach einer Formulierung aus dem Marketing klingt, muss ich doch sagen, dass diese 27 Jahre nach der Premiere geäußerte Behauptung des Regisseurs nicht von der Hand zu weisen ist. Nicht unbedingt, was die Außerirdischen angeht; die bleiben bis auf Weiteres Fantasie. Aber wie Carpenter 1988 die Gesellschaft der nahen Zukunft (Science Fiction) skizziert, ist schon atemberaubend nah an der Wirklichkeit. Da schwärmt zum Beispiel im Fernsehprogramm eine junge Frau, wie super das Leben als Prominente sei. sie müsse gar nichts mehr lernen, nichts mehr leisten: „Oder ich habe eine eigene Talkshow. Oder ich bin in den Nachrichten, wie ich aus einer Limousine aussteige. Und alles was ich tun muss, ist berühmt sein. Von den Leuten gesehen werden und geliebt werden.

Auch, was Schadstoffemissionen angeht, erweist sich Carpenters Film als visionär (und wir lassen den Aspekt Aliens, der dem Storytelling dient, mal außen vor): „Sehen Sie sich unsere Umwelt doch einmal genau an“, mahnt der Revolutionär im gehackten Fernsehen. „Kohlendioxyd, Fluor-Kohlenwasserstoff, all das wächst in bedrohlichem Maße an. Das Klima wird auf den Kopf gestellt. Sie verwandeln unsere Atmosphäre langsam in ihre Atmosphäre.

Auch der wichtigste Kontakt in John Nadas Leben, der Bauarbeiter Frank, ist einer, der uns im Kinosessel auf erschreckende Weise den Spiegel vorhält. „Ich habe Frau und Kinder“, motzt er Nada an, der ihn von seiner Entdeckung berichten will und es dann rundheraus ablehnt, diese Sonnenbrille aufzusetzen, mit der er klar sehen würde. Interpretation: Frank will nicht klar sehen. Er will seine Familie durchbringen und seine Ruhe haben. Kann man verstehen. Kennen wir im Kinosessel alle. Wir lieben Verschwörungstheorien. Aber aktiv eine Verschwörung bekämpfen, deren Auswirkungen mir nicht wirklich weh tun? Danke, keine Zeit. Ich muss um fünf Uhr aufstehen. Frank muss zur Einsicht buchstäblich geprügelt werden.

Diese Prügelei hat es in sich. Sie dauert mehrere Minuten, beide Männer sind ordentliche Muskelberge, der Schreibtischmann im Kinosessel fragt sich bisweilen, ob man sich überhaupt so verprügeln kann, aber die Metapher dahinter ist offensichtlich: Frank muss zum Sehen gezwungen, geprügelt werden. Er weigert sich beharrlich, sich der Realität zu stellen und also muss die Wahrheit in ihn hinein geprügelt werden.

Es bleibt offen, welche Wahrheit die richtige ist, und das ist das Schöne an diesem Film: „Die haben alles unter Kontrolle. Ihnen gehört einfach alles. Dieser ganze Scheiß-Planet. Sie können tun und lassen, was sie wollen. Was ist denn falsch daran, wenn man es auch mal gut hat? Und sie sorgen dafür, das es uns gut geht, wenn wir ihnen helfen. Sie werden uns in Ruhe lassen und wir können unser Geld verdienen.

Ist doch schön. Oder? Wir müssen uns nicht kümmern. Die Arbeit erledigen andere.

Dem stehen allerdings die Botschaften hinter der Sonnenbrille im Weg: „Gehorche!“ „Schlaf weiter!“ „Hinterfrage keine Autorität!“ „Kaufe!“ John Carpenter wirft uns mit seinem mäßig packenden Film in Erklärungsnot.

Wertung: 6 von 10 D-Mark
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