Buchcover: Freiheit
Eine sarkastische TV-Serie
in literarischer form
Titel Freiheit
(Freedom)
Autor Jonathan Franzen, USA 2010
aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeldt
Verlag Rowohlt
Ausgabe Gebunden, 733 Seiten
Genre Drama
Website macmillan.com/jonathanfranzen
Inhalt

Patty und Walter Berglund – Vorzeigeeltern und Umweltpioniere, fast schon ideale Nachbarn in ihrer selbst renovierten viktorianischen Villa in St. Paul – geben plötzlich Rätsel auf: Ihr halbwüchsiger Sohn Joey zieht zur proletenhaften, republikanischen Familie nebenan und lernt fortan mit Connie, Nachbars Tochter, die Wonnen der körperlichen Liebe kennen. Der Rest der Familie lässt bald darauf St. Paul samt viktorianischer Villa hinter sich und zieht nach Washington, wo sich Walter auf einen kruden Deal mit der Kohleindustrie einlässt, die er ein mehrere zehntausend Hektar großes Waldgelände zerstören lassen will, um dort „anschließend” ein Schutzgebiet für eine einzige Vogelart zu errichten.

Patty, Ex-Sportlerin und Eins-a-Hausfrau, entpuppt sich als wahrlich sonderbar. Sie verkraftet Joeys Auszug zu den Nachbarn nicht, glaubt, als Mutter ebenso versagt zu haben wie ihre Mutter bei ihr und verfällt, weil sie sonst nichts gelernt hat, also „nichts kann”, in Depressionen und lässt sich auf ein folgenschweres Date mit Richard ein, Walters bestem Freund aus Studientagen und heimlich immer schon Pattys große Liebe.

Während Tochter Jessica sich auf ein College möglichst weit weg verzieht, bricht Joey mit der Familie, geht nach New York und findet Kontakt zu republikanischen Thinktanks. Er heiratet Connie, heimlich, und starrt auf Jenna, die bildschöne Schwester seines College-Kumpels Jonathan, die ein verwöhnte Biest ist, die sich teuer verkauft.

Etwa zu der Zeit, als Joey in einer Eintausend-Dollar-pro-Nacht-Suite irgendwo im argentinischen Hinterland in seiner Scheiße wühlt, um den Ehering wiederzufinden, den er versehentlich verschluckt hat, während draußen Jenna nach ihren Tampons schreit, findet Walter raus, dass Patty was mit Richard hatte, setzt sie vor die Tür und startet eine Beziehung zu seiner jungen, loyalen und willigen Assistentin Lalitha, zieht mit ihr gegen Überbevölkerung zu Felde und stolpert dabei über seine unschlagbar moralische Aufrichtigkeit …

Was zu sagen wäre
Freiheit

Das erlebe ich selten, dass das Feuilleton quer durch die Gesinnungen ein „Meisterwerk“ ausruft und das Buch dann trotzdem flüssig und leichtfüßig zu lesen ist.

Die 700 Seiten kommen mir vor wie nichts. Jonathan Franzen erzählt locker, unaufgeregt, ungewohnt sarkastisch vom Zerfall einer Familie in den Bush/Cheney-Jahren, souverän, ohne auf Effekt zu setzen. Hier und da baut er Cliffhanger ein, die aber fast schon zufällig wirken, so spielerisch kommen die daher.

Klassische Struktur - Auf Krawall gebürstet

Der Aufbau der Freiheit ist geradezu klassisch auf Konflikt gebürstet: Da ist der blonde, sanfte Walter und sein Rockerfreund Richard mit den vielen Frauen, der beschrieben wird als das dunkelbärtige, pockennarbige Look-alike Muammar Gaddafis. Da ist die blonde Patty und die bengalisch dunkle Lalitha, Vögel gegen Katzen, Demokraten gegen Republikaner. Im Letzteren zeigt sich, dass im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert Parteien keine Rolle mehr spielen - zwar werden Menschen erwähnt, die um Kontakt ins Weiße Haus buhlen, aber gestalterische Macht haben nur noch abgedrehte und andersartige Konzernbosse. Pattys Mutter „arbeitet in der demokratischen Partei” und lebt daher in höheren Kreisen; was sie aber in der Partei macht, bleibt unklar - gestalten jedenfalls tut sie nicht.

Neben seiner Familiensaga entwirft Franzen ein Bild der Gesellschaft dieser Jahre. Die ist ziellos auf der Suche nach … irgendwas, zerrissen, radikalisiert. Aber da ist nicht mehr viel, für das sich zu kämpfen lohnt. Bezeichnend Franzens Frauenrollen: Ehefrau Patty (Jahrgang irgendwas 60er) scheitert an ihrem Plan, die Supermutter zu werden, hat aber nichts anderes gelernt, macht ihren Mann für ihr Scheitern verantwortlich und versinkt in Depressionen. Die beiden anderen Frauen – Lalitha und Connie – (Jahrgang Ende 70er, Anfang 80er) stehen loyal zu ihren Männern, ziehen aber sehr betont ihr Ding durch, wobei Lalitha ihre Liebe und ihr Ding gleich im selben Büro vereint - sehr modern, sehr effizient, Kinder will sie keine. Auch die andere, Joeys Connie, lehnt Kinder irgendwie ab – jedenfalls bewundert ihre Schwägerin Jessica sie dafür, Joeys Kinderwunsch immer wieder hinauszuschieben. Jessica selbst, Pattys und Walters Tochter, ist ein Musterkind - die einzige, die ohne erkennbares Drama durch die 700 Seiten kommt.

Viele Einzelepisoden wie in der modernen TV-Serie

Und dann ist da noch Jenna, jene höllisch schöne Schwester von Joeys Studienkumpel Jonathan, die so schön und aus so gutem Haus kommt, dass ihr nur die Rolle der verwöhnten Nobelzicke bleibt, an der man(n) sich einfach versuchen muss, wenn man als Burner auf sich halten will. Ihr und Joey widmet Franzen ein fröhlich-ätzendes Intermezzo, das so recht nirgendwo andockt im großen Familienroman, folgenlos bleibt und einfach nur … lustig ist.

Auch damit passt Franzens Roman perfekt in die Zeit: Die Familiensaga wirkt, wie eine der modernen TV-Serien, deren 12 Teile man sich lieber am Stück ansehen möchte, als in Folgen gestückelt; es gibt viele Höhepunkte und zwischendrin Pausenfüllerstories – einmal treffen Walter und seine fast-schon-Geliebte Lalitha auf einen Redneck, eine Begegnung, die ohne weitere Folgen bleibt, aber einen Haben-wir-das-auch-noch-erwähnt-Charakter entfalten.

Die „Freiheit”, kein Ziel zu haben

Die Männer dieses Sechziger-Jahrgangs sind eher jämmerlich: Walter kämpft so ein bisschen für seine Natur, tut aber sonst alles, um seine Frau zufrieden zu stellen. Sein Widerpart Richard ist in seiner flotten Wildheit genauso Frauenfixiert wie Walter und startet erst durch, als er die vermeintliche Liebe seines Lebens hinter sich hat. Es ist diese 1960irgendwas-Generation, die nirgendwo je so recht dazu gehört hat – zu jung, um ein „68er” zu sein, zu alt für die „Generation Golf” ist sie bekannt als Teil der „Babyboomer”. Von denen weiß man, dass es vor allem zu viele von ihnen gibt; und dass sie in eine Unzeit geboren wurden: Die großen Ideen waren fürs erste gefunden, das Internet noch fern, diese Generation hatte die Wahl zwischen überfüllten Unis, keinem Job und verschiedenen Kriegen. Oder sie feiern die 1980er Jahre als endlose Anything-goes-Party. Die „Freiheit”, die Franzen im Titel führt, stellt sich als sehr bigott heraus.

Und die jüngere Männergeneration ist kaum besser. Joey träumt von der Wall Street, wird windiger Waffenhändler und scheitert an seinem Jenna-Date, weil er mit den Händen in seiner Scheiße wühlt, um den Ehering wiederzufinden, den er verschluckt hat und der seine ehrliche, aber uneingestandene Liebe zu Connie dokumentiert. Am Ende ist er ein guter Mensch. Sein Kumpel Jonathan taucht überhaupt stets nur als Collegeboy und Frauenversteher auf. Diese Generation hat gleich gar nichts mehr, für das sich zu kämpfen lohnt.

Spannungsbögen und die wirklichen Menschheitsprobleme

Jonathan Franzens Text ist auf keiner Seite langweilig. Seine unterschiedlichen Erzählperspektiven inklusive eines langen biographischen Textes Pattys („auf Anraten ihrer Therapeutin”) in der dritten Person sorgen für allerlei Spannungsbögen und Sympathieverteilung. Denn das macht den Reiz dieses Buches aus, dessen erstes Kapitel man nach Ende eigentlich noch mal lesen sollte. Am Anfang erleben wir Familie Berglund in ihrem – nicht zuletzt durch sie – gentrifizierten Stadtviertel in ihrer verschwenderischen viktorianischen Villa, dokumentiert aus dem Blickwinkel der mehr oder weniger neidischen Nachbarn.

Auf den Seiten 12/13 fasst Franzen die drängensten Probleme der Bewohner des neuen Hip-Viertels zusammen: "In den allerersten Jahren, als man noch ohne schlechtes Gewissen einen Volvo 240 fahren konnte, bestand die kollektive Aufgabe in Ramsey Hill im Erlernen gewisser Lebenstechniken, die zu verlernen für die eigenen Eltern Grund genug gewesen war, in die Vororte zu fliehen: etwa wie man die örtliche Polizei dafür interessierte, tatsächlich ihre Arbeit zu tun, wie man sein Fahrrad vor einem hochmotivierten Dieb schützte, wann der Zeitpunkt gekommen war, einen Betrunkenen von den Terrassenmöbeln zu vertreiben, wie man Wildkatzen dazu brachte, ihre Haufen in den Sandkasten anderer Leute Kinder zu setzen, und woran man feststellte, ob eine staatliche Schule so schlecht war, dass es gar nicht erst den Versuch lohnte, sich für sie zu engagieren. Es gab auch aktuellerer Fragen, etwa die, was von Stoffwindeln zu halten war. Der Mühe wert? Und stimmte es, dass man Milch immer noch in Glasflaschen geliefert bekommen konnte? Waren die Pfadfinder politisch akzeptabel? Gehörte Bulgur wirklich auf die Speisekarte? Was tun, wenn eine mittellose Frau anderer ethnischer Herkunft einen beschuldigte, man mache ihr Wohnviertel kaputt? War es wahr, dass die Glasur von altem Fiesta-Porzellan gefährliche Mengen Blei enthielt? Wie raffiniert musste ein Küchenwasserfilter eigentlich sein? Wechselten auch anderer 240er manchmal nicht in den fünften Gang, obwohl man den Overdrive-Schalter betätigt hatte? Sollte man Bettlern Essen geben oder besser gar nichts? War es möglich, beispiellos selbstbewusste, glückliche, hochintelligente Kinder großzuziehen, wenn man ganztags arbeitete? Durfte man die Bohnen für den Morgenkaffee schon am Abend vorher mahlen oder musste das unmittelbar vor dem Frühstück geschehen? Hatte in der Geschichte St. Pauls schon mal irgendjemand gute Erfahrung mit einem Dachdecker gemacht? Wie sah es mit einem sachkundigen Volvo-Mechaniker aus? Hatten auch andere 240er das Problem mit dem klemmenden Handbremsseil? Und dieser rätselhaft gekennzeichnete Schalter am Armaturenbrett, der so ein wohliges schwedisches Klicken erzeugte, aber mit nichts verbunden zu sein schien: Wozu diente der?
Patty Berglund war für alle Fragen ein reicher Quell, ein sonniger Überträger von soziokulturellem Pollen, eine freundliche Biene."

Es ist so ein bisschen das Familienporträt im Goldrahmen auf dem Kamin. Und dann greift Franzen zur Lupe und zoomt immer näher heran an die einzelnen Figuren. Stilsicher formuliert. Wunderbar verknüpft. Verschwenderisch emotional.

Darf ein Meisterwerk und Weltroman dennoch ein Happy End haben. Dieser hat. Und was für eins. Womit die Frage dann auch beantwortet ist.

Ich habe Freiheit gelesen vom 23. bis 30. August 2013.