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Plakatmotiv: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (2018)

Sehr schönes
Kinder-Kino

Titel Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer
Drehbuch Dirk Ahner & Andrew Birkin & Sebastian Niemann
nach dem gleichnamigen Kinderbuch von Michael Ende
Regie Dennis Gansel, Deutschland 2018
Darsteller

Henning Baum, Solomon Gordon, Annette Frier, Christoph Maria Herbst, Uwe Ochsenknecht, Milan Peschel, Thomas Fritsch, Leighanne Esperanzate, Rick Kavanian, Michael Herbig, Shirley MacLaine, Kao Chenmin, Andy Cheung, Tadashi Endo, Eden Gough, Paul Courtenay Hyu, Volker Michalowski u.a.

Genre Abenteuer, Fantasy
Filmlänge 105 Minuten
Deutschlandstart
29. März 2018
Inhalt

Die kleine Insel Lummerland erhält einen neuen Bewohner: Der Postbote bringt ein Paket, in dem sich ein kleiner schwarzer Junge befindet. Das kleine Waisenkind erhält den Namen Jim, weil es „genauso aussieht“, und wird von der Ladenbesitzerin Frau Waas großgezogen. Als der Junge Jim Knopf größer wird, wird die Insel aber zu klein für alle ihre Bewohner – neben Frau Waas auch der König Lummerlands, Alfons der Viertel-vor-Zwölfte, sein Sekretär Herr Ärmel, und Lukas, der Lokomotivführer mit seiner Lokomotive Emma. Auf Vorschlag des Königs soll der Bahnbetrieb stillgelegt werden; das kann Lukas nicht dulden: Wie soll er ohne Emma leben in Lummerland? Lukas und Jim verlassen deshalb bei Nacht und Nebel die Insel mit der zum Schiff umgebauten Dampflok Emma.

Nach langer Seereise landen sie in Ping, der Hauptstadt von Mandala. Dort trauert der Kaiser, dessen Tochter Li Si vor Jahr und Tag verschwand, was ihm die Sprache verschlagen hat.

Lukas und Jim hatten eine Flaschenpost von ihr gefunden, in der sie angab, sich in der Drachenstadt Kummerland jenseits des Gebirges, das man die Krone der Welt nennt, bei Frau Mahlzahn in der Alten Straße 133 in der „dritten Etage links“ zu befinden. Sie versprechen dem Kaiser, Li Si zu befreien und zu ihm zurückzubringen.

Im Zuge dieser ganzen Flaschenpostnummer hat Jim auch erfahren, dass er in einem Paket, das die Piraten der „Wilden 13“ verschnürt hatten, nach Lummerland kam. Und seither fragt er sich, wo er eigentlich ursprünglich herkommt …

Was zu sagen wäre

Im ersten Moment sieht die stürmische See, auf der das Schiff der Wilden 13 schaukelt, tatsächlich aus, wie Plastikfolie. Da steckt die Erinnerung an die eigene Kindheit mit Jim Knopf, Lukas, Herrn Tur Tur und Frau Mahlzahn tatsächlich fest in den Bildern der Augsburger Puppenkiste, die Michael Endes Kinderbuchklassiker in den 1960er Jahren in alle Kinderzimmer brachte. 50 Jahre später ist das natürlich keine Plastikfolie mehr; aber die gezeigte stürmische See macht eben doch auch gleich deutlich: This is not Hollywood.

Die Spezialeffekte, mit denen die Pixelkünstler in Kalifornien so virtuos hantieren, sind eine andere, wirtschaftlich potentere und anders kalkulierende Welt. Das deutsche Kino kann auf der Ebene nicht mithalten. Deutscher Film kann sich weltweit nicht behaupten, der Sprachraum ist zu klein; dreht man aber für den Weltmarkt, bekommt man zwar womöglich die notwendigen (zusätzlichen) Millionen Euro für die perfekte CGI, verwässert aber den Charme der literarischen (deutschen) Vorlage schnell zu einem 08/15-Special-Effects-Gewitter, wie es einst Die Unendliche Geschichte (1984) wurde, verfilmt – ebenfalls – nach einer Vorlage von Michael Ende.

Sowas ähnliches – großes SFX-Kino nach US-amerikanischem Vorbild – schwebte den Produzenten ursprünglich vor, deshalb erleben die Besucher der englischsprachigen Fassung auch die große Shirley MacLaine als drachige Lehrerin Frau Mahlzahn (Das erstaunliche Leben des Walter Mitty – 2013; Valentinstag – 2010; Magnolien aus Stahl – 1989; Auf dem Highway ist wieder die Hölle los – 1984; Zeit der Zärtlichkeit – 1983; Ein Fressen für die Geier – 1970; Siebenmal lockt das Weib – 1967; Immer mit einem anderen – 1964; Das Mädchen Irma la Douce – 1963; Das Appartement – 1960; Immer Ärger mit Harry – 1955). Diese Szenen hatte Dennis Gansel mit der Actrice in Australien gedreht als Appetizer für mögliche Geldgeber. Plakatmotiv: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (2018) Statt dessen landete das Filmprojekt in der Projekthölle – Geldprobleme erzwangen Drehbuchänderungen erzwangen Umbesetzungen erzwangen Regiewechsel und irgendwann, wahrscheinlich beim jährlichen Kinokongress in Baden-Baden, sagten die deutschen Kinobesitzer dem Produzenten Mach's doch einfach auf deutsch, mit deutschem Geld in Babelsberg und München.

So geschah es. Und das ist ein Glück für diesen Film. Ja: Die Special Effects sind nur 90% State of the Art. Aber, so what? Henning Baum, der den Lokomotivführer Lukas spielt, ist ja auch kein guter Schauspieler, was die große Leinwand rasch entlarvt. Aber er ist eine gute Type, ein sympathischer Bud-Spencer-Ersatz, der zuschlägt, wenn's drauf ankommt und als bärtiger Bär seine Emma im Griff hat. Und so ist auch dieser Film: Ein spannendes Abenteuer, das uns um die halbe Welt trägt und wunderschöne Fluchten gönnt.

Geht man diesen Film ideologiekritisch an – auch das geht – verstricken wir uns in aktuelle Fragen der europäischen Flüchtlingspolitik. Jim Knopf fahndet seine Herkunft und stellt fest, dass das Land seiner Ahnen nicht so wichtig ist wie die Menschen, die ihn aufgenommen haben, integriert haben – dann ist der Familiennachzug syrischer Flüchtlinge in unserer realen Welt ja vielleicht wirklich nicht so entscheidend?
Und König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte, sozusagen der Regierungschef der Insel, stellt fest, dass der junge Flüchtling … Fremdling … der Inselgesellschaft den notwendigen Lebensraum schmälert (und dadurch das lebensgefährliche Abenteuer auslöst). Wichtig, den Kindern im Kinosessel für diese Insel-Ängste den Blick zu weiten. Michael Endes Vorlage aus dem Jahr 1960 thematisierte nur den Platzmangel, nicht aber die Identitätssuche Jims.

Der gefürchtete Schwund an Lebensraum und die Identitätssuche befeuern nun also das Abenteuer, das Jim, Lukas und Emma nach Mandala bringt, das in Michael Endes Ur-Ur-Ur-Ur-Fassung noch das (pseudo)reale China war. Mandala mit seinen Pagoden und den zwischen diesen wandelnden Kindern und Kindeskindern und Kindeskindeskindern und Kindeskindeskindeskindern entpuppt sich als zauberhafter Sehnsuchtsort, die weiß-rot gestreiften Berge als wuchtiges Alpenpanorama, vor dem auch Reinhold Messner erst mal tief Luft holen würde. Das Tal der Dämmerung und die Region der Schwarzen Felsen als die eigentlichen Schurken des Stücks sind angemessen düster und kalt, aber ich bin schon ganz froh, aus der Buchvorlagge noch zu wissen, dass das Gebirge im Tal der Dämmerung unter den tausendfach reflektierten Schallwellen der fahrenden Lokomotive zusammenbricht. Das zu erklären hat der Film keine Zeit; im Film wirkt die Szene wie das nächste Level im Adventuregame: Erreiche das Ende des Tals, ohne von den einstürzenden Felsen erschlagen zu werden.

In diesem Part, in dem die Gefahr jeweils von einer Landschaft ausgeht, ist der Film schwach, der eben vor allem Kinder ansprechen muss: In Produktionen für diese Zielgruppe gibt es bei Gefahr jeweils nur eine Eskalationsstufe, mehr ertragen die Kleinen nicht; da müssen also wir Erwachsenen durch. Dieses Manko macht der Film bei den beiden anderen Bedrohungen wett: beim Scheinriesen Tur Tur und beim Halbdrachen Nepomuk. Milan Peschel, der gerufen wird, wenn im deutschen Film Loser gesucht sind, als Tur Tur zu besetzen, war eine große Idee. Peschel gibt dem Scheinriesen menschliche Tiefe, jede Menge Angst-vor-Ausgestoßen-werden-Gefühl, an das sich Erwachsene gut erinnern und das Kinder zwischen 8 und 18 gerade hautnah erleben. Und Nepomuk, der Halbdrache: goldig animiert und mit Michael „Bully“ Herbigs Synchronstimme zu einem ausgesprochen lebendigen Zeitgenossen erzogen.

Puristen werfen dem Film Fantasiefledderung vor, sagen, er töte die Imagination gleich mehrer Generationen von Jim-Knopf-Lesern. Das ist so richtig wie wohlfeil. Jede Verfilmung tötet die Imagination der Leser für immer. Die Frage ist, mit welcher Qualität? Ich persönlich – aber das ist natürlich kein Maßstab – habe mich schnell in diese sehr liebevoll gestaltete, pfeifend und tutend kommunizierende Lokomotive Emma verliebt; die ist schon einen zweiten Blick wert.

Dennis Gansel hat Michael Endes Märchenwelt behutsam übertragen. Er hat die Fantasiefiguren auf die Leinwand geholt, ohne sie in Special Effects zu ertränken – der Scheinriese Tur Tur ist ein visuelles Ereignis – und hat dramaturgische Löcher riskiert in Situationen, in denen Kinder mehr Zeit brauchen als Erwachsene. Ein schöner Abenteuerfilm mit Retro-Charme und guten Aussichten – Ostern 2020 soll Endes literarische Fortsetzung verfilmt sein: Jim Knopf und die Wilde 13.

Wertung: 5 von 8 €uro
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