Der Kunst-Auktionator Simon hat Spielschulden bei jeder Menge humorloser Leute. Und er hat Franck, der alle Schuldscheine aufkauft – und alte Gemälde liebt. Franck beauftragt also seinen Schuldner Simon, während einer Auktion ein wertvolles Goya-Gemälde, den „Flug der Hexen“, zu stehlen. Doch Simon hält sich nicht an die vereinbarten Regeln und alles endet in einem Desaster: Er wird bewusstlos geschlagen und als er erwacht, hat er das Bild offenbar versteckt, kann sich aber nicht mehr erinnern, wo – Amnesie.
Bei Amnesie könne man nichts machen, nichts vorantreiben, nichts beschleunigen, sagt der behandelnde Arzt, aber vielleicht sei Hypnose eine Möglichkeit, an die verschütteten Erinnerungen zu gelangen.
Franck engagiert die Psychologin Elizabeth. Mithilfe von vielen Gesprächen und Hypnose versucht sie die Ereignisse zu rekonstruieren. Dabei rutscht Simon zunehmend in eine Welt jenseits seines Hier-und-Jetzt-Bewusstseins ab und kann bald nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden. Will Franck ihn töten, wenn das Bild wieder aufgetaucht ist? Erwidert die Psychologin seine Gefühle? Er weiß nicht einmal, ob er das Bild überhaupt noch hat …
Achtung bei Filmen, in denen Psychater eine zentrale Rolle spielen, die führen immer was im Schilde. Das weiß Regisseur Danny Boyle auch, dass wir sofort tippen, dass da was mit doppelten Boden im Drehbuch steht – Psychater ist wie Zwillinge: Der war‘s immer! Und weil Boyle das weiß, zieht er haufenweise doppelte Böden ein; so viele, dass wir bald nicht mehr wissen, wo wir uns befinden – in einem Heistmovie, einem Erotik-, oder einem Psychothriller. Oder gar in einem Splattermovie, in dem halb weggeschossene Köpfe mit mir reden? Boyle hat seine Zuschauer schnell in dem Zustand, in dem sich seine Hauptfigur Simon befindet – orientierungslos.
In rauschhaftem Ästhetizismus jagt uns der Brite durch die Genres. Zunächst mit der fröhlich-sarkastischen Tonalität cooler Heistmovies, die einen wir-rauben-ein-Kunstwerk-und-kommen-durch-damit-Film suggerieren; aber nur zehn Minuten. Dann verlieren wir langsam den Boden. Nichts folgt den linearen Regeln des klassischen Erzählens, wie wir es aus dem kommerziellen Kinobetrieb kennen – aber am Ende sind alle Fäden, alle wie zufällig eingeschnittenen Kameraeinstellungen, wieder verknüpft und zugeordnet. „Kein Kunstwerk ist ein Menschenleben wert“, trichtert uns der Film zu Beginn immer und immer wieder ein. Der Showdown, eine brennende Blutorgie mit zerschossenen Genitalien und zerfressenen Leibern, fordert folgerichtig gleich mehrere Menschenleben.
An dieser Stelle müssen wir einen Blick auf die Besetzung werfen, einer der doppelten Böden in Boyles Spiel. Der filmtechnisch versierte Handwerker ("127 Hours" – 2010; Slumdog Millionär – 2008; 28 Days Later – 2002; The Beach – 2000; Lebe lieber ungewöhnlich – 1997; Trainspotting – 1996) besetzt gegen den Strich: James McAvoy, der smarte Brite mit dem wissenden Auge (X-Men: Erste Entscheidung – 2011; Die Lincoln Verschwörung – 2010; "Ein russischer Sommer" – 2009; Wanted – 2008; Abbitte – 2007; Der letzte König von Schottland – 2006), ist Simon. Vincent Cassel, der virile Franzose mit dem scharf geschnittenen Gesicht (Black Swan – 2010; "Pakt der Wölfe" – 2001; "Die purpurnen Flüsse" – 2000; Johanna von Orleans – 1999; Elizabeth – 1998), ist Franck. Rosario Dawson, von Regisseuren gerne als schönster Kerl unter lauter Jungs besetzt (Unstoppable: Außer Kontrolle – 2010; "Eagle Eye – Außer Kontrolle" – 2008), ist die Psychologin. Da sind die Sympathien und Antipathien des Kinogängers schnell verteilt – zumal der grimme Cassel den netten McAvoy ja auch bald fies foltert. Aber spätestens, wenn Rosario Dawson, Quentin Tarantinos Heroine für die Hardcore-Filme (Death Proof – 2007; Sin City – 2005), mit Seidenblüschen in biederem Büro daher kommt, müssen wir stutzig werden; als britische Version des spießigen Love interest aus dem US-Kino wäre sie denkbar ungeeignet. Gut, dass diese Elizabeth das dann auch nicht ist.
Sie verdrängt Simon, die vermeindliche Hauptfigur, bald aus dem Mittelpunkt der Erzählung. Mit dem Auftreten der Psychologin löst sich die vorher so klar erscheinende auf. Die eben noch einsam weinende Therapeutin, welche die Fäden zu Beginn scheinbar nur dank ihrer beruflichen Fähigkeiten in der Hand hält, entpuppt sich als kühl berechnende Femme fatale. Mit ihr wechselt Boyle die Seiten, seine Männerriege, angeführt von Vincent Cassel (mit imposantem Body), wird geschlagen mit den Waffen einer Frau. Gut und böse, wahr und falsch sind keine verlässlichen Größen mehr. Manipulation, Lüge, Sinnlichkeit und Begehren – die Frau hält die Fäden in der Hand, ist Motor der Geschichte. Das schwache Geschlcht ist – wieder mal – der Mann.