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Plakatmotiv: Der fremde Sohn (2008)

Clint Eastwood erweist sich als
großer Geschichhtenerzähler

Titel Der fremde Sohn
(Changeling)
Drehbuch J. Michael Straczynski
Regie Clint Eastwood, USA 2008
Darsteller

Angelina Jolie, John Malkovich, Jeffrey Donovan, Michael Kelly, Colm Feore, Jason Butler Harner, Amy Ryan, Geoff Pierson, Denis O’Hare, Frank Wood, Peter Gerety, Reed Birney, Gattlin Griffith, Devon Conti, Eddie Alderson, Asher Axe, Michelle Gunn, Jan Devereaux, Erica Grant, Antonia Bennett, Kerri Randles, Morgan Eastwood, Madison Hodges, Ric Sarabia u.a.

Genre Biografie, Drama
Filmlänge 141 Minuten
Deutschlandstart
22. Januar 2009
Inhalt

Los Angeles im Jahr 1928. An einem Samstagmorgen verlässt Christine Collins das Haus und geht zur Arbeit in einer Telefonzentrale. Bei ihrer Rückkehr ist ihr Sohn Walter verschwunden.

Zunächst hilft ihr die Polizei nicht wirklich weiter, aber als dann nach Monaten ein Junge gefunden wird, stellt sich die Polizei im besten Licht dar, um ihr schlechtes Image bei der Bevölkerung in Punkto Korruption und Mord zu überdecken. Der gefundene Junge behauptet, der gesuchte Walter zu sein, doch Christine erkennt ihn nicht wieder und glaubt einen anderen Jungen vor sich zu haben. Mit ihren Bemühungen, die Verwechslung zu beweisen, stößt sie bei der korrupten Polizei auf Widerstände. Weder die nicht übereinstimmenden Zahnbefunde noch die Tatsache, dass der neue Walter beschnitten und zehn Zentimeter kleiner ist, werden anerkannt; die Polizei betrachtet den Fall als abgeschlossen.

Christines nimmt den Jungen auf, pocht aber weiterhin darauf, dass es nicht ihr Sohn ist. Sie sucht ihren Walter auf eigene Faust gegen den erbitterten Widerstand der Polizei. Insbesondere Capt. J.J. Jones stellt sich erbittert gegen sie. Die einzige Unterstützung erhält sie von Reverent Gustav Briegleb, der schon immer gegen die Machenschaften der Polizei gewettert hat.

Keiner kann Christine die Hoffnung nehmen, dass sie ihren richtigen Sohn doch noch irgendwann wieder bekommt. Ihre vehemente Forderung, die Suche nach Walter fortzusetzen, bringt sie in große Schwierigkeiten. Von Polizei-Captain Jones als hysterisch und gefährlich abgestempelt, wird sie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, wo auch noch weitere der Polizei unliebsame Personen untergebracht sind …

Was zu sagen wäre

Based on a true Story … eine spannende Geschichte, die uns daran erinnert, was Kino mal war: ein Medium, um Geschichten in Bildern zu erzählen und die Geschichten sind dabei genau so wichtig, wie die Bilder. Von der seit Jahren in Hollywood als Standard für Kassenerfolge deklamierten Erzählstruktur in drei Akten hält Clint Eastwood augenscheinlich nicht viel. Seinem Film „Changeling“ (Wechselbalg; Kuckuckskind) kann man leicht vorwerfen, er wisse nicht, was und wohin er wolle – vom singulären Mutterdrama zum Antstaltshorrortrip zum Serienkillermovie zur Korruptionsanklage. Aber so ist das Leben halt nun mal, würde Mr. Eastwood erwidern, wenn er diesen Anwurf denn einer Erwiderung wert fände.

Der Film führt uns in die ausgehenden 20er Jahre. Das gibt den Abteilungen Kostüm und Ausstattung Gelegenheit, ein visuell üppiges Szenario zu gestalten. Er greift die damals grassierende Korruption innerhalb der Polizeibehörden der Stadt Los Angeles auf, von denen es heißt, die Polizisten seien nicht mehr an der Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung interessiert, sondern daran, die Konkurrenz im Drogenhandel und Glücksspiel auszuschalten. Uns im Kinosessel gibt das die Gelegenheit, uns ein bisschen zu gruseln, wie damals die Polizei mit einfachen Bürgen umging, weil: Heute ist das ja nicht mehr so. Aber Eastwood wäre nicht Eastwood, wenn er nicht natürlich Drähte in die jüngste Vergangenheit legte – jedenfalls für seine Landsleute: Bis in die späten 1990er Jahre hinein galt die Polizei des NYPD als ähnlich korrupt, wie die des LAPD 70 Jahre zuvor; vielleicht nicht ganz so mörderisch, dafür aber auch bis heute – in New York – noch nicht endgültig beseitigt. Die malerisch schön ausgestattenen 1920er Jahre dienen Eastwood dazu, die spezielle Form staatlicher Willkür im eigenen Land zu durchleuchten.

Im Grunde treibt ihn noch dieselbe Behördenskepsis um, die ihn schon Anfang der 70er nicht schlafen ließ. Seine Dirty Harry-Figur war überzeugt, dass die Behörden sich mit ihren eigenen Vorschriften stranguliert hätten. Heute beschäftigen ihn Behörden, die alle Fesseln abgestreift haben und ihr eigenes Süppchen kochen, einen Staat im Staate gebildet haben – ob in den Kriegsministerien dies- und jenseits des Pazifiks, ob im Los Angeles der 1920er Jahre oder im Weißen Haus, nachdem der US-Präsident seine Geliebte ermordet hat. Es ist das klassische Thema des US-Kinos – ob als Film Noir, Politthriller oder Krimi: Der einfache Bürger steht auf gegen das System, dargestellt als schadhafte Institution, denn der Staat ist nicht die Instution, der Staat ist ebenjener Bürger. Clint Eastwood ist, was diesbezügliche Heldenerzählungen angeht, ein entschiedener Befürworter des Kampfes um diese Werte einer freien Gesellschaft. Christina Collins, die verzweifelte Mutter, bleibt selbst dann noch die unbeugsame Streiterin für ihre Überzeugung und Autonomie, als ihr das Gehirn per Elektroschocks vermatscht werden soll.

Plakatmotiv (US): Changeling – Der fremde Sohn (2008)

"Der fremde Sohn" beginnt zunächst wie ein intimes Drama um eine Mutter, die über ihren verschwundenen Sohn in die Mühlen einer rassistischen, frauenverachtenden Machtmaschinerie gerät. Durch die strenge Subjektivität in der ersten Hälfte des Films verlieren wir uns mit Christina Collins in einer kafkaesken Welt, erleben die Ausgrenzung der Heldin am eigenen Leib, auch weil Eastwood uns diese Heldin ganz nah bringt. Angelina Jolie spielt sie ("Die Legende von Beowulf" – 2007; Mr. & Mrs. Smith – 2005; "Sky Captain and the World of Tomorrow" – 2004; Lara Croft – Tomb Raider: Die Wiege des Lebens – 2003; Original Sin – 2001; Lara Croft: Tomb Raider – 2001; Nur noch 60 Sekunden – 2000; Durchgeknallt – 1999; Der Knochenjäger – 1999; Leben und lieben in L.A. – 1998), der Öffentlichkeit mehr bekannt als Muttertier und Streiterin für die Rechte von Kind und Frau in aller Welt, worüber leicht in Vergessenheit gerät, dass sie eine versierte Könnerin ihres eigentlichen Fachs, der Schauspielerei, ist. Eastwoods Dauerkameramann Tom Stern bringt Jolies große, häufig feucht schwimmenden Augen und ihre rot geschminkten großen, häufig leicht zitternden Lippen so nah an uns Betrachter, dass wir uns ihrer Einsamkeit gar nicht entziehen können – sofern wir uns denn auf das Drama einlassen, das seine Struktur immer wieder ändert. In der zweiten Hälfte nämlich verlässt Eastwood die Subjektive und breitet den großen Teppich mit der ganzen brutalen Geschichte aus, in der die bedauerliche Mrs. Collins lediglich als roter Faden dient, an dem der zunehmend fassungslose Zuschauer sich festhalten kann. Eastwood hat diese Art der die Hollywood-Regeln verweigernden Erzählkunst schon einmal erfolgreich angewendet. Wie in Mystic River fügt auch „Changeling“ mit jeder neuen Wendung dem Film neue Facetten hinzu. Und so bekommt dieser anfangs so intime Film plötzlich episches Format.

Diese offene Form des Erzählens, die nicht nach drei Szenen alle Spuren ausgelegt hat, an denen sich der Zuschauer entlanghangeln kann, weil er – Stichwort: Drei-Akter – verlässlich weiß, was passieren wird und nur mit bunten Bildern unterhalten werden will, kann nur funktionieren, wenn das Drehbuch entsprechend dicht gepackt und die Regie entsprechend komplex arbeitet. Zwischenzeitlich spielt das titelgebende Drama mit der Mutter gar keine Rolle mehr, verzwergt sich zum Stichwortgeber für eine gesellschaftlich relevantere, blutigere Kindermassenmördergeschichte. Das heißt für den Zuschauer, er muss aktiv mitarbeiten, muss bereit sein, dem Erzähler am Lagerfeuer (= Leinwand) einfach zu folgen; und der Erzähler muss das können. Eastwood schüttelt immer neue Wendungen aus dem Ärmel, immer neue Charakterstudien, Storyminiaturen, die den Zuschauer – so abgegriffen die Formulierung klingt – ans Lagerfeuer bannt. Es gehört zum Epos, die kuschelig vertraute Intimität zu verlassen, um die Welt zu erklären, die sich dann im kuschlig Intimen wieder fügt.

Bei Eastwood ist Detective Lester Ybarra so eine Charakterstudie, der zunächst natürlich in die Arschlochriege gehört, weil Cop, weil schnoddrig, weil Michael Kelly ihm seine scharf geschnittenen, dunkel schattierten Gesichtszüge leiht. Wie schön ist es , diesem Mann dabei zuzugucken, wie er Scheibe um Scheibe den Horror der Kindermorde im Hühnerkäfig mit Axt und Beil aufdeckt, wie seine Gesichtszüge immer weicher werden – wie schön am Ende, dass diesem Gesicht die vorletzte Einstellung gehört, bevor Eastwood mit der letzten Einstellung in seine klassische Totale mit schwebender Kamera schaltet.

Zu den Storyminiaturen, die den Zuschauer an der Leinwand halten, gehört das gesellschaftliche Portrait der damaligen Zeit. Es ist schon kackdreist, wie die Polizei hier mit Bürgern umspringt und wie das so niemanden interessiert – außer der Kirche; Kirche und Religion spielen in vielen Eastwood-Filmen eine unterschwellige, aber zentrale Rolle. Da wird die Mutter mit ihrer Vermisstenmeldung zunächst vertröstet. Dann schiebt die Polizei, die mit einem schon schlechter werdenden Image in der Öffentlichkeit zu kämpfen hat, der Frau – der schönen Zeitungsfotos wegen – irgendeinen anderen Jungen unter – „Sie sind eine Mutter. Sie haben ein gutes Einkommen. Sie haben doch alle Möglichkeiten, sich gut um den Jungen zu kümmern. Warum tun Sie es also nicht?“ Mit anderen Worten: Sie haben Ihr Kind verloren? Macht nichts. Wir haben gerade eins über! – und wehrt jeden mütterlichen Zweifel ab, ja, macht der Frau brutale Vorwürfe, unterstellt ihr, sie habe sich wohl an ihre kinderlose Freiheit gewöhnt, daran, zu tun, zu lassen, zu treffen, wen und was sie wolle und plötzlich sei dieses lästige Kind wieder da. Mit dieser dreisten Realitätsverbiegung und deren Folgen mag Eastwood ins New Yorker Police Departement schielen, sie ist aber auch tauglich als Kommentar zum Realitätsverständnis der amtieren Bush-Regierung im Weißen Haus, die irakische Massenvernichtungswaffen erfindet, um in den Krieg ziehen zu können und Menschen ohne Anklage in Guantanamo wegsperrt, weil die eventuell, vielleicht was vorhaben – Clint Eastwood ist zuerst politisch konservativ, dann erst Republikaner.

Das ist übertrieben? Als Christina Collins in der psychatrischen Anstalt weggesperrt ist, trifft sie auf eine Leidensgenossin, die sie über gewisse Realitäten im Leben innerhalb dieser Mauern aufklärt, die auch Realitäten beschreibt, die die Männer beherrschte Gesellschaft draußen ebenso lebt, die aber dem Zuschauer aus dem fernen 21. Jahrhundert doch nochmal deutlich gemacht werden müssen: Die Stellung der Frau im Amerika der 20er Jahre war der einer passiv Dienenden, nicht einer aktiv Handelnden. „Jeder weiß doch, wie zerbrechlich Frauen sind“, zitiert da die Leidensgenossin die vorherrschende männliche Sicht. „Viel zu gefühlsbetont, unlogisch. Können nichts mit ihrem Kopf anfangen. Und ab und zu machen sie unbequeme Äußerungen und verlieren ihren Scheißverstand! … Wenn wir verrückt sind, muss niemand uns zuhören.“ Es ist bemerkenswert, wie der korrupte Polizei-Captain später vor Gericht genau diese Haltung spiegelt – „sie benahm sich aufrührerisch“, „sie wollte nicht hören“, „sie bestand darauf, Recht zu haben“, als Zuschauer aus dem 21. Jahrhundert sitzt man bald mit offenem Mund da.

Clint Eastwood hat abseits des Getöses des SFX-beherrschten Action-Overkill-Kino ein Filmjuwel gedreht. Durch Angelina Jolie gewinnt der Film Größe, durch Blicke, Gesten. Dank der Lichtführung und der Konzentration auf Naheinstellungen der Schauspieler erzählt Eastwood vieles ohne Worte. Es sind die Gesichter, die die Geschichte erzählen.

Wertung: 7 von 7 €uro
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