Buchcover: Bodo Kirchhoff – Widerfahrnis

Ein Mann. Eine Frau. Drei Tage
im Auto. Eine Liebe in Italien.

Titel Widerfahrnis
Autor Bodo Kirchhoff, Deutschland 2016
Verlag Frankfurter Verlagsanstalt
Ausgabe E-Book, 224 Seiten
Genre Novelle
Website fva.de
Inhalt

Reither, bis vor kurzem Kleinverleger in einer Großstadt, nun in einem idyllischen Tal am Alpenrand, hat in der dortigen Bibliothek ein Buch ohne Titel entdeckt, auf dem Umschlag nur der Name der Autorin, und als ihn das noch beschäftigt, klingelt es abends bei ihm.

Und bereits in derselben Nacht beginnt sein Widerfahrnis und führt ihn binnen drei Tagen bis nach Sizilien. Die, die ihn an die Hand nimmt, ist Leonie Palm, zuletzt Besitzerin eines Hutgeschäfts; sie hat ihren Laden geschlossen, weil es der Zeit an Hutgesichtern fehlt, und er seinen Verlag dichtgemacht, weil es zunehmend mehr Schreibende als Lesende gibt.

Aber noch stärker verbindet die beiden, dass sie nicht mehr auf die große Liebe vorbereitet zu sein scheinen. Als dann nach drei Tagen im Auto am Mittelmeer das Glück über sie hereinbricht, schließt sich ihnen ein Mädchen an, das kein Wort redet, nur da ist …

aus dem Klappentext …

Was zu sagen wäre
WiderfahrnisWenn sich verlieben ein tastendes, unsicheres Gefühl ist, bei dem jeder Schritt das Ende bedeuten, aber auch jede Handbewegung der Beginn von etwas Berauschendem sein kann, dann hat Bodo Kirchhoff mit seine Novelle „Widerfahrnis“ dieses Gefühl verschriftlicht. „Widerfahrnis, das war mehr als die vergessene Heimsuchung – da muss man nur hinhören, muss nur hinsehen, dann ist es die Faust, die einen unvorbereitet trifft, mitten ins Herz, aber auch die Hand, die einen einfach an die Hand nimmt“, so sinniert Kirchhoffs Hauptfigur Julius Reither – „bleiben Sie lieber bei Reither“ – an einer Stelle. Der Mann war Verleger schwer verkäuflicher Bücher, immer wieder beschreibt er, wie er gegen Floskeln und hohl klingelnde Metaphern hoffnungsfroher Jungautoren ankämpfte, wie er um jede exakte Formulierung stritt – „wie oft hatte er so etwas gestrichen, hingeschrieben nur, weil es sich angeboten hat, Hurenworte“. Ihn mag der Begriff „Widerfahrnis“ unvorbereitet mitten ins Herz treffen. Mich nicht.

Ich musste erst einmal nachschlagen, was das für ein Begriff ist, der dem Autor den Deutschen Buchpreis 2016 eingebracht hat. Der Duden kennt es nicht. Aber gut, gerade erst habe ich den Buchpreis-Träger 2017 verschlungen – Robert Menasses Die Hauptstadt – und gemerkt, dass sich hinter „Deutscher Buchpreis“ nicht zwangsläufig unverständliche Gedankenaneinanderkleberei verbergen muss. Ich brauche etwa zehn Seiten, dann haben sich meine Synapsen an Kirchhoffs Stil angepasst, der eher Innerer Monolog ist, als olympische Beschreibung einer Handlung, die Beschreibung eines Aufeinanandertreffens – etwas, dass Reither widerfährt, eine Widerfahrnis.

Die Perspektive ist immer: Reithers Sicht; Kirchhoff schreibt über seinen Reither zwar in dritter Person, aber streut immer mal wieder Hinweise einer souveränen Erzählerstimme ein, die man auch als innere Stimme Reithers interpretieren kann: „Sie betrachtete ihn – ein Wort, vor dem er häufig gewarnt hatte, betrachten, es gehöre ins Museum, sei zu mächtig, wie auch das Wort Blick, es gelte, andere Worte zu finden, unaufdringliche“. Die Dialoge laufen im Fließtext mit, nicht durch An- und Abführung abgesetzt. Das würde den Fluss des Fließtextes auch nur stören. Statt dessen sind wir eng an den beiden Figuren, Reither und Leonie Palm. Sie hat ihren Hutladen dicht gemacht, er seinen Verlag: „Und in der kleinen Buchhandlung, die zu meinem Verlag gehört hat, gab es auch keine Kinderbücher. Es gab auch keine Ratgeber, keine Reiseführer und keine Kochbücher. Und schon gar keine Kriminalromane. Wie es in Ihrem Hutladen ja auch keine Wollmützen gab.
Seine Besucherin nahm die Espressokanne und einen Untersetzer und ging zum Tisch. Bei dem Konzept kann keine Buchhandlung überleben. Mit meinem Hutladen bin ich wenigstens an der Zeit gescheitert. Die Leute haben gespürt, dass ihre Gesichter zu leer waren für Hüte.

Kirchhoff findet eine Erzählform, die den Leser auf dieser schwebenden Liebesgeschichte einfach an die Hand nimmt, Komm mit sagt. Und ich komme gerne mit. Obwohl die Geschichte zunächst absurd anmutet, dann aber – er über 60, sie wohl leicht darunter – sich in einen gelebten Traum verwandelt: Die fahren einfach los und schauen, was kommt, sind anspruchsfrei, was Komfort betrifft, nähern sich einander im deutschen Sehnsuchtsland ohne viele Worte  – „Schalten, sagte sie, und er schaltete in den zweiten Gang“ – während sie Verona und Bologna hinter sich lassen und Richtung Süden fahren, „wenn wir uns jetzt trennen, könnte jeder noch zur Vernunft kommen. Wollen Sie diese Jacke mitnehmen?“. Das wär schade, flüstert an dieser Stelle längst der Leser.

Wir erleben, wie ein ausgelebter Mann sich verliebt, als wär's das erste Mal, seine Unsicherheit – wohin mit dem Blick, was tun mit den Händen, was sagen, was nicht – seine Erinnerungen an die vergangenen Lebensliebe Christine, die sich mit ihm für eine Abtreibung entschied – „nein, Erinnerungen sind keine Abschnitte in Handbüchern, es sind auch nicht nur Einflüsterungen. Viel eher sind es Splitter, auf die man barfuß im Dunkeln tritt, weil man vergessen hat, dass etwas zu Bruch gegangen ist, sich an den Wein erinnert, nicht an das Glas, das zu Boden fiel“ – dabei bleibt die Beschreibung äußerlicher Gegebenheiten unkonkret, lässt Raum für Bilder im Kopf des Lesers. Und je südlicher Italien, desto entspannter auch der ehemals strenge Verleger – „Reither lag auf dem Rücken und weinte – und er hätte das in einem Buch wohl auch so stehengelassen –, er weinte um sich und Punkt“.

Immer wieder tauchen am Straßenrand der romantisch-spontanen Reise – buchstäblich am Rand der Geschichte – Flüchtlinge aus dem nordafrikanischen Raum auf. Ein brisantestes Thema in Deutschland, eher in den Nachrichten zuhause, als im Roman. Hier aber ist es verknüpft mit dem Lebensgefühl wohlsituierter, in die Jahre gekommener, illusionsloser Kulturbürger, die anfällig sind für Melancholie und Schmerz. Im sizilianischen Catania sitzt ein namenloses Flüchtlingskind an ihrem Tisch, schläft in ihrem Appartement, sitzt in ihrem Auto. Mit ihm ändert sich alles. Die Ruhe, der Traum, die Ordnung, die sich Reither für seinen kommenden Lebensabschnitt schon vorstellt, ist mit einem Mal dahin. Die Flüchtlinge aus dem Kontinent, den wir Wiege der Menschheit nennen, konfrontiert die Reisenden mit den Widerfahrnissen ihrer eigenen Vergangenheit. Dass am Ende drei Flüchtlinge im Auto sitzen aber nur noch einer der beiden Hauptpersonen, kann man durchaus als literarische Metapher auf gesellschaftspolitische Ängste lesen.

Die Flüchtlinge bleiben Funktionsfiguren wie in einem Lackmustest. Sie lösen etwas aus, die unerhörte Begebenheit (die Widerfahrnis), die laut Goethe zentrales Charakteristikum einer Novelle sei – das habe ich in Zuge der Titelerklärung recherchiert. Die Funktionsfiguren halten das Beziehungstheater der beiden sich Annähernden am Laufen, geben bei insgesamt drei physischen Kontakten der Reise dreimal neuen Drall. Bei ihnen gleitet Kirchhof ab in die gönnerhafte Arroganz eines gehobenen Bildungsbürgertums, wenn er seinen Reither ein ums andere Mal die Flüchtlinge um deren einfaches Leben beneidet. Die Eritreerin, die in seinem Wohnhaus am Empfang arbeitet, darum, „selbst in diesem Tal hier aus dem Staunen kaum heraus“ zu kommen, später einen Nigerianer um sein „Leben ohne Dach und ohne Bett, ohne Konto und ohne Fürsprache, mit nichts in der Hand ausser Frau und Tochter und dem eigenen Mut“ … Lustig ist das Vagabundenleben.

Das Buch ist flott geschrieben und ruft große Gefühle wach. Kirchhoff ist gut genug, das nicht in Kitsch abdriften zu lassen und liefert ein Kompliment mit, das man sich gegebenenfalls merken könnte: „Länger an Ihrer Seite zu schlafen, Leonie, wäre schon ein Versäumnis.

Die Jury des Deutschen Buchpreises begründet ihre Ehrung so: „Bodo Kirchhoff erzählt vom unerhörten Aufbruch zweier Menschen, die kein Ziel, nur eine Richtung haben – den Süden. Es treibt sie die alte Sehnsucht nach der Liebe, nach Rotwein, Italien, einem späten Abenteuer. Als sie eine junge Streunerin auflesen, begegnen sie den elementaren Themen ihrer Vergangenheit wieder: Verlust, Elternschaft, radikaler Neuanfang. Kirchhoff gelingt es, in einem dichten Erzählgeflecht die großen Motive seines literarischen Werks auf kleinem Raum zu verhandeln. Gleichzeitig erzählt er von unserer Gegenwart und davon, wie zwei melancholische Glückssucher den Menschen begegnen, die in der Jetztzeit den umgekehrten Weg von Süden nach Norden antreten. Kirchhoffs »Widerfahrnis« ist ein vielschichtiger Text, der auf meisterhafte Weise existentielle Fragen des Privaten und des Politischen miteinander verwebt und den Leser ins Offene entlässt.

Ich habe „Widerfahrnis“ zwischen dem 6. und 9. November 2017 in Mainz gelesen.